Dark Heart 1 - Nihil

Erschienen am 04.03.2021


Klappentext

**Wenn deine Liebe ein Herz zum Schlagen bringt**

 

Heaven wünscht sich nichts sehnlicher als das ganz normale Leben einer Siebzehnjährigen zu führen. Doch nach dem Verlust ihrer Eltern lebt sie bei ihrem Onkel Sam, der auf seiner Suche nach verschollenen Reliquien die gesamte Welt bereist. Zu Heavens Leidwesen muss sie ihn überallhin begleiten - auch in die kanadische Wildnis, die förmlich nach abgeschiedener Einsamkeit schreit. Kaum findet sie sich in Port Hardy einigermaßen zurecht, trifft sie auf den mysteriösen Leviathan, der sie mit seiner außergewöhnlichen Präsenz sofort in seinen Bann zieht. Heaven ahnt nicht, dass sie Gefahr läuft, ihr Herz an einen Dark Heart zu verlieren, der nur fähig ist zu fühlen, wenn er einem Menschen etwas Bedeutsames nimmt ...

 


The Dark of You

becomes

the Light in Me

 

Im Angesicht der reinen Seele erstickt das Böse an seinem betörenden Lächeln.


Leseprobe

"Wie lange dauert es noch, bis wir endlich da sind?", gähnte ich und rieb mir über meine bleischweren Augenlider.

"Laut Navi elf Minuten", antwortete Sam tonlos, den Blick konzentriert auf den dunklen Asphalt gerichtet.

Nur die Scheinwerfer des Leihwagens, einem grauen Dodge Ram, erhellten die von kanadischer Wildnis umgebene Fahrbahn. Besonders viel sehen konnte ich nicht, was zum einen an den schlechten Lichtverhältnissen und zum anderen an meiner fast schon komatösen Müdigkeit lag. Irgendwann zwischen gestern, heute und morgen hatte unsere Reise über zwei Kontinente durch mehrere Zeitzonen nach Vancouver Island begonnen.

Ich wusste nicht einmal, welchen Tag wir hatten, bloß, dass wir vor etwas mehr als vierzehn Stunden vom Flughafen in Reykjavik gestartet, in Vancouver gelandet und mit einer kleineren Maschine weiter zum Nanaimo Airport geflogen waren. Dort hatte Sam diesen Wagen gemietet, mit dem wir mittlerweile bereits gefühlte Ewigkeiten durch die Gegend fuhren, um Port Hardy zu erreichen.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte unsere Reise zurück nach Lincoln geführt. In das schöne alte Backsteingebäude mit der tollen Aussicht auf die Sunken Gardens, dem außergewöhnlichen Geruch alten Papiers und vergangener Jahrhunderte, der von Sams Antiquitätenladen hinauf in das für drei Personen viel zu große Apartment drang, und mir manchmal das Gefühl vermittelte, durch alle Zeiten zu wandern. Ganz so, als hätte ich trotz meines jugendlichen Alters von gerade mal siebzehn bereits alles gesehen. Was mich auf der Lincoln Southeast Highschool laut meinem fünf Jahre älteren einzigen und besten Freund, Orlin Pax, der gleichzeitig ein Mitarbeiter meines Onkels war, zu einem niedlichen Freak machte. Wenn ich denn überhaupt für ein paar Wochen im Jahr die Schule besuchte. Leider wurde mir jedoch meistens der Stoff per E-Mail kreuz und quer über den ganzen Planeten hinterhergeschickt, weil Sam sich permanent auf der Jagd nach verschollenen Reliquien, antiquarischen Büchern und Kunstschätzen befand.

Der zweite wichtige Mann in meinem Leben, Orlin, kannte sich bezüglich Freaks bestens aus. Er selbst zählte nämlich ebenfalls zu dieser besonderen Spezies, obwohl oder gerade weil es manchmal den Anschein machte, er würde von niemandem außer Sam und mir richtig wahrgenommen. Dabei besaß er eine durch und durch auffällige Erscheinung. Unabhängig von seiner beachtlichen Größe, mit der mich um gut anderthalb Köpfe überragte, und dem bis zum Kinn vollständig tätowierten Oberkörper, hatte er diese irritierend hellen graublauen Augen, die unter seinem dunkelbraunen, stets total zerzausten Schopf so prägnant wie die eines Huskys wirkten. Surreal war der einzig richtige Ausdruck dafür.

"Wo übernachten wir diesmal?", brummte ich. "Pension, Hotel oder Haus?"

"Hotel", brummte Sam zurück.

"Wieder so ein spartanisches Ding im Nirgendwo für Durchreisende?"

"Nein. In der Stadt. Du wirst es mögen."

"Kleinstadt", korrigierte ich ihn, klappte die Sonnenblende nach unten, knipste das kleine Lämpchen an und rutschte so weit wie möglich nach vorne, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, wenngleich mir klar war, besonders viel sehen würde ich nicht. Und da war auch gut so, wie ich erschrocken feststellen musste. Dunkle Schatten lagen unter meinen sonst so klaren blauen Augen, die von Müdigkeit bezeichnet viel kleiner als sonst wirkten. Meine glatten hellblonden Haare, die ich seit Jahren züchtete und um deren Länge ich mit den Friseuren dieser Welt um jeden Zentimeter, der abgeschnitten werden sollte, feilschte, waren vom unruhigen Kurzschlaf im Flugzeug und auf dem Autositz total verknotet. Wie Stroh standen sie an meinem Hinterkopf hoch und ich wagte ernsthaft zu bezweifeln, das Chaos jemals wieder entwirren zu können. Gut, dass mich um diese Uhrzeit niemand mehr zu Gesicht bekam, wo ich mich selbst kaum noch erkannte. Eins stand nach dem Anblick fest: Sobald ich eine Matratze unter mir spürte, würde ich mindestens zwölf Stunden darauf liegen bleiben. "Wahrscheinlich 150 Einwohner. Dreiviertel davon 40 Plus, der Rest über 60", trat ich missmutig nach.

Sam lachte. Das tat er selten. Dabei stand es ihm ausgesprochen gut, wenn die feinen Linien um seine stahlblauen Augen sichtbar wurden und das markante Gesicht unter den kurzgeschorenen braunen Haaren sekundenlang an Härte verlor. "Ungefähr 4000. Einige davon sollen sogar jung sein", sagte er. "Kommst du damit klar?"

Ich klappte die Sonnenblende wieder hoch und ließ mich geräuschvoll zurück in den Sitz fallen. "Hab ich eine andere Wahl?"

"Nein."

"Wie lange bleiben wir?"

"Bis ich fertig bin."

"Das ist ja mal was ganz Neues."

Sam erwiderte nichts darauf und konzentrierte sich weiter auf die Strecke. Seine kryptischen Aussagen ließen viel Raum für Spekulationen. Ein kurzer Aufenthalt von zwei Tagen wäre genauso möglich wie mehrere zähfließende Wochen. Beides hatte es in der Vergangenheit schon gegeben. Manchmal traf er sich mit jemandem, wickelte das Geschäft ab und die Sache war erledigt, doch meistens verfolgte er lediglich Hinweise, die sich mit jedem Ortswechsel wie ein Puzzle verdichteten, und das konnte mitunter sogar Monate dauern. Früher, als ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte mir eine Nanny das unstete Reiseleben erleichtert und sich liebevoll um mich gekümmert. Danach war ich unterwegs von Orlin bespaßt worden. Doch nun, da ich per Definition fast zu den Erwachsenen zählte und mein bester Freund die Rolle eines Mitarbeiters übernommen hatte, war ich praktisch auf mich allein gestellt.

Frustriert starrte ich durch die Windschutzscheibe. Das waldige Gebiet lichtete sich langsam und in der Ferne waren die ersten Umrisse des Hafenstädtchens zu erkennen. Der Mond stand groß und voll am dunklen Himmel. Sein mystisches Licht brach sich auf der Meerenge mit dem klangvollen Namen Queen Charlotte Strait und brachte sie funkelnd zum Strahlen, als würden Diamanten unterschiedlicher Größe zwischen den Silhouetten der vielen Boote anmutig darauf tanzen. Selten hatte ich etwas Schöneres gesehen.

Einige Minuten später erreichten wir den Hafen und passierten langsam die Kaimauern. Aus der Nähe betrachtet büßte die Meerenge ein Stück weit ihren Zauber ein, wirkte jedoch immer noch idyllisch. Sam bog von der Straße zum vollkommen leeren Parkplatz des Hotels ab und brachte den Wagen zum Stehen.

"Scheint ja ein richtiger Hotspot zu sein", stellte ich mit einem kurzen Seitenblick aus dem Fenster bissig fest.

"Es ist zwei Uhr nachts. Was erwartest du?", erwiderte Sam.

"Keine Ahnung." Resigniert zuckte ich mit den Schultern. "Wenigstens ein zweites Auto oder so. Aber hier ist ja gar nichts." Gähnend schnallte ich mich ab und zog meinen Rucksack aus dem Fußraum. "Nur Wasser und Schiffe und Bäume." Ich stieg aus, warf mir den Backpack über die Schulter und schlug die Tür hinter mir zu. "Wahrscheinlich haben die nicht mal vernünftiges WLAN und das Netz spackt die ganze Zeit rum. Ich werde noch zum Sozialphobiker, wenn ich nicht bald mal wieder Kontakte knüpfen kann, die mir über einen längeren Zeitraum erhalten bleiben. Mein ganzes Leben besteht nur aus dir, Orlin und Fernfreundschaften, die ziemlich schnell einschlafen, weil du mich von einer Zeitzone in die nächste schleifst. Warum können wir nicht einfach ein ganz normales unspektakuläres Leben führen? So ein Spießerding mit strukturierten Tagesabläufen, gemeinsamen Mahlzeiten und Ritualen und was die sonst alles machen."

Sam sagtet nichts. Er runzelte lediglich die Stirn, holte unser Gepäck aus dem Wagen und verriegelte ihn. 

Exakt achtzehn Schritte später stand ich hinter meinem Onkel in der Lobby des großen weißen Gebäudes mit grünlich blauen Dach und schaute mich um, während er gewohnt sachlich die Formalitäten regelte, ohne darauf zu achten, wie angetan die Hotelangestellte an der Rezeption von ihm war. Keine Ahnung, wie er das machte. Viele Frauen fanden ihn attraktiv und fühlten sich von ihm angezogen, doch hatte er in all den Jahren, die ich bei und mit ihm lebte, nie ein Date gehabt. Zumindest keines, von dem ich wusste, und ich war ziemlich froh darüber, dass er sich bezüglich seines Liebeslebens ähnlich schweigsam zeigte wie in fast allen anderen Bereichen auch. Es gab zwar vieles, was ich gerne erfahren hätte, doch das zählte zu den Dingen, die er fraglos für sich behalten durfte.

Der Eingangsbereich des Hotel wirkte überschaubar, relativ spartanisch, aber auf seine eigene Art gemütlich. Eine typische Mischung aus Backpacker-Absteige und einfachem Urlaubshotel. Die obligatorischen Umgebungspostkarten steckten in einem einfachen Drehständer neben den Snack- und Getränkeautomaten und auf dem blankpolierten Granit des Rezeptionstresens lagen verschiedenfarbige Flyer von Ausflugszielen für Touristen aus. Gleich gegenüber befand sich eine zusammengewürfelte Sitzgruppe, bestehend aus einem modernen Sofa, einem antik anmutenden Tischchen und zwei altertümlichen Ohrensesseln. Über einem großen Kaminsims hing ein Flatscreen, der die Wiederholung irgendeiner Late-Night-Show zeigte.

Alles in allem zählte das Hotel zu den Okay-Unterkünften meines unfreiwilligen Vagabundenlebens und lag einigermaßen zentral. Wenngleich Port Hardy nicht unbedingt mit Großstadtflair aufwartete, würde der Ort bestimmt lebendiger sein als das Haus in der zwar atemberaubend schönen, jedoch ziemlich einsamen Natur Islands, wo wir die vergangenen Wochen verbracht hatten. Leider ohn Orlin, weil der sich um den Antiquitätenladen hatte kümmern müssen. So viel wie dort hatte ich unabhängig vom Schulstoff nie zuvor gelesen. Unfassbare fünfunddreißig Bücher waren nebst vier kompletten Serien von meinem Unterhaltungsmanko verschlungen worden und ich hätte sicherlich noch mehr durchgesuchtet, wäre da nicht diese leidige Internetproblematik gewesen.

Sam wandte sich von der Rezeption ab und mir zu. Sein Blick huschte nach links zu den Aufzüge. "Da entlang."

Ich folgte ihm. Eine andere Wahl blieb mir sowieso nicht. Diskussionspotential war meinerseits zwar ausreichend vorhanden und hüpfte mir regelrecht auf der Zunge herum, aber meine Müdigkeit hinderte mich daran, auch nur genervt die Augen zu verdrehen.

Wir stiegen in den offenen Fahrstuhl und Sam drückte auf Drei. Ich befürchtete das Schlimmste. In Island hatten wir zwar ein großes Haus irgendwo im Nirgendwo bewohnt, doch zuvor in dem Hotel in Edinburgh war mein Freiraum von einer Verbindungstür eingeschränkt worden. Und - noch viel schrecklicher - Barcelona war dermaßen ausgebucht gewesen, dass wir uns sogar für geschlagene vierzehn Tage ein Zimmer hatten teilen müssen. Von Privatsphäre keine Spur, obwohl Sam die meiste Zeit über auf der Jagd nach mysteriösen Dingen gewesen war, die strengster Geheimhaltung unterlagen. Und wenn er eines wirklich gut drauf hatte, dann war es, aus Gründen eben diese Dinge streng geheim zu halten.

"Hafen oder Wald?", fragte er zu meiner Überraschung.

Vermutlich meinte er damit die Aussicht. Zwei zur Auswahl bedeutete wohl, meine Befürchtungen waren unbegründet gewesen, doch konnte ich meine Freude darüber gerade nicht zeigen, obwohl mein inneres Ich laut kreischend vor Glück im Kreis herumrannte. Stattdessen zuckte ich gleichmütig mit den Schultern, während sich die Aufzugstür schloss. "Hauptsache ein Bett." Alles andere war mir in diesem Moment tatsächlich egal. Wen kümmerte es schon, was in diesem Kaff durch die Fenster zu sehen war, wenn man kaum noch geradeaus gucken konnte?

"Darüber werden wohl beide Zimmer verfügen."

Ich warf ihm einen Wenn-ich-könnte-würde-ich-dich-langsam-und-qualvoll-töten-Blick zu. Sam nahm meine gereizte Miene lediglich mit einer leicht nach oben gezogenen Braue, gefolgt von einem Stirnrunzeln zur Kenntnis und presste seine Lippen zu schmalen Strichen zusammen, ehe er mir einen der beiden Schlüssel gab, auf dessen ankerförmigen Treibholzanhänger die Nummer 306 eingebrannt war.

Ein kurzes Ruckeln, verbunden mit diesem eklig mulmigen Gefühl, als würde der Magen in die Hose und wieder zurückrutschen, dann kam der Aufzug zum Stehen. Ein melodisches "Pling" ertönte und die Fahrstuhltür öffnete sich auf der dritten Etage.

Wir stiegen aus und schauten uns der Orientierung halber um. Genau wie in der Lobby schimmerte der Holzboden seidig matt unter dem Einfall der Nachtlichter, die zwischen den einzelnen Zimmertüren dezent leuchteten  und den Gang nur so weit erhellten, dass wir uns zurechtfanden.

Laut den wegweisenden Pfeilen an den Wänden befand sich mein Zimmer links von uns und wir schlichen so leise wie möglich über den Flur, bis wir unser Ziel erreicht hatten. 

"Hier." Sam zog meine Reisetasche von seiner Schulter und hängte mir das schwere Teil um. "311", murmelte er danach und wies dabei auf den schräg gegenüberliegenden Raum. "Lass dein Handy an."

Ich nickte.

"Gute Nacht, Heaven."

Sams Hand schnellte in meinen Nacken. Er zog mich harsch an seine Brust, drückte mir einen festen Kuss auf die Stirn und ließ mich los, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Knallharte Herzlichkeit, wie ich sie seit jeher kannte. Auf Außenstehende konnte sie durchaus kopfnussig wirken, aber es war schlichtweg seine eigentümliche Art, mir zu zeigen, wie gern er mich hatte, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Nein, es war sogar viel mehr: Ich liebte ihn aufrichtig. Ohne ihn hätte mein Leben einen völlig anderen Verlauf genommen. Mir fehlte rein gar nichts, wenngleich ich mir oft wünschte dauerhaft in Lincoln bleiben zu können. Ich wollte Freunde finden, auf Partys gehen, leichtsinnig und verrückt sein, mein Herz an jemanden verschenken, der das gute Stück verdient hatte, oder wenigstens einmal leidenschaftlich geküsst werden, damit ich wusste, wie sich verliebt sein anfühlen könnte.

"Irgendwann brichst du mir das Genick", murmelte ich. "Oder die Stirn ... oder beides."

"Ich werde mich bessern."

"Das schaffst du nicht."

"Nein, das schaffe ich auch nicht." Der Hauch eines Lächelns huschte über sein unrasiertes Gesicht. Er sah müde aus. "Schließ die Tür ab und lass die Fenster zu."

Das Prozedere kannte ich zur Genüge. Wider Erwarten schaffte ich es in diesem Moment doch, die Augen zu verdrehen, öffnete die Tür, tastete nach einem Lichtschalter, betrat das Zimmer und verschloss es hinter mir. "Zufrieden?"

"Hm", brummte er durch das Naturholz.

"Schlaf gut."

Ich bekam keine Antwort. Stattdessen hörte ich seine Schritte auf dem Holzboden, die immer leiser wurden, bis sie gänzlich verstummten.

Erschöpfte schaute ich mich um und war angenehm überrascht. Ein solch schönes Zimmer hatte ich in diesem Hotel nicht vermutet und meine Freude darüber, die paar Quadratmeter weder teilen zu müssen noch Verbindungstüren zu entdecken, verdrängte meine Müdigkeit ein wenig. Wobei das naturfarben bezogene Queensize-Bett zu meiner Linken mit den schokobraunen Applikationen förmlich danach schrie, augenblicklich von mir erobert zu werden und in den aufgebauschten Kissen zu versinken.

Am Bad vorbei ging ich weiter in den Raum hinein und stellte meine Reisetasche auf einem grob gemusterten zweisitzigen Sofa ab, vor dem ein kleiner viereckiger Tisch stand, der wie alle anderen Möbel aus heller sägerauer Eiche gefertigt worden war.

Neugierig lief ich über den beigefarbenen Teppich zu den Fenstern, wovon eines - das größte - einen Erker zierte, der mit einem Stuhl und einem Schreibtisch bestückt als Arbeitsplatz diente. Obwohl Sam es verboten hatte, öffnete ich das Erkerfenster und nahm einen tiefen Zug der Meeresluft in mich auf, die mit dem frischen Tannenduft des stockfinsteren Waldes, der sich vor mir erstreckte, eine wohltuend beruhigende Mischung ergab. Irgendwie verrückt. Anscheinend hatte jedes Land seinen ganz eigenen Geruch. Das war sie also, die Duftmarke von Port Hardy. Und ich mochte sie, wenngleich sie nicht an die von Lincoln heranreichte.

Ein leises Seufzen löste sich aus meiner Kehle und ich verriegelte das Fenster, bevor sich Heimweh zu meiner Übermüdung gesellen konnte und mir die Gedanken an mein gemütliches Zuhause noch den längst überfälligen Schlaf raubten.

Schweren Schritte schlurfte ich durch das Zimmer, knipste die Nachttischlampe mit dem beigefarbenen Stoffbezug an und löschte das große Licht. Danach sank ich auf das Boxspringbett und stellte meinen Rucksack ab. Um die nächtliche Stille zu durchbrechen, griff ich zur Fernbedienung und schaltete den Flatscreen ein, der auf einem TV-Board zwischen den Fenstern stand. Keine Ahnung, was lief. Ich schaute nicht einmal hin. Hauptsache Stimmen.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich waschen, kämmen und mir die Zähne putzen sollte, brachte es aber nicht fertig, meinen inneren Schweinehund zu besiegen, noch mal aufzustehen und die paar Meter zum Bad zu gehen. Im Sitzliegen zog ich bis auf Shirt und Slip alles aus, kroch unter die Decke und zerrte den Rucksack vom Fußende zu mir nach oben. Wenngleich ich fast nicht mehr fähig war die Augen offen zu halten, gab es einige Dinge, die nicht bis morgen warten konnten.

Zuerst kramte ich mein Smartphone hervor und legte das Gerät auf den Nachttisch. Danach folgte mein Tagebuch, das neben unzähligen Gedanken auch Zeichnungen, Fotos, Aufkleber und Postkarten zwischen seinem ledernen Einband, der mit einem geflügelten Herzen und meinem Namen geprägt war, in sich trug - ein Geburtstagsgeschenk von Sam. Und dann, ganz unten, am Boden des Backpacks, blitzte mein Allerheiligstes auf, eine silberne Schatulle, kaum größer und höher als ein halbes Taschenbuch, aber von unermesslichem Wert für mich.

Ich nahm das Kästchen heraus, schubste den Rucksack achtlos vom Bett und öffnete das angelaufene, von der Hitze des Brandes teils deformierte Metall, wie ich es fast jeden Abend tat, bevor ich die Augen schloss. Vor allem in Nächten wie diesen, wenn ich mich fremd und ein bisschen einsam fühlte.

"Hey, Mom", flüsterte ich. Einen Moment lang wusste ich nicht, ob ich lächeln oder weinen sollte, während ich mit den Fingerspitzen über ihr hübsches Gesicht strich und das einzige Foto von ihr betrachtete, das mir nach den zerstörerischen Flammen geblieben war, in denen meine Eltern vor nunmehr dreizehn Jahren umgekommen waren, die ihr Leben und alle damit verbundenen Erinnerungen erbarmungslos ausgelöscht hatten.

Wir sahen uns ähnlich. Das war unschwer zu erkennen. Hellblonde Haare, nahezu identische Gesichtszüge. Aber da existierten noch andere Auffälligkeiten an mir: meine Haut, die im Sommer wie im Winter dieselbe Blässe zeigte, ohne krank auszusehen, das intensive Blau meiner Augen, die langen schwarzen Wimpern und dunklen Augenbrauen, die nicht zu der Helligkeit meiner Haare passten. Ich fragte mich, ob diese Besonderheiten vielleicht von meinem Vater stammten. Waren es seine Gene gewesen, die diesen starken Kontrast zeichneten? Darauf würde ich wohl nie eine Antwort bekommen, denn Sam sprach bloß selten über seinen besten Freund, besaß nicht einmal irgendwelche greifbaren Erinnerungsstücke, und das einzige Foto half mir genauso wenig weiter. Der größte Teil des Bildes war von der Hitze des Feuers in Mitleidenschaft gezogen worden, wirkte angesengt ohne verbrannt zu sein. Die äußeren Ränder waren viel zu dunkel, um noch etwas zu erkennen. Kein Hintergrund. Nichts. Auch nicht mein Dad. Lediglich seine Hand, die auf dem Bauch meiner Mutter ruhte, war übrig geblieben, was bedeutete, er musste bei der Aufnahme hinter ihr gestanden haben. Ich bildete mir gerne ein, die Kamera hätte einen besonders glücklichen Moment ihres Lebens festgehalten. Dass mein Vater sie innig umarmt und ihr irgendetwas zugeflüstert hatte, weil Mom dieses selige Lächeln im Gesicht trug, das ihre Augen zum Strahlen brachte. Ich konnte mich nicht wirklich an sie erinnern. Nur manchmal, ganz selten, blitzten nebulöse Fetzen in meinem Gedächtnis auf, von denen ich nicht wusste, ob es tatsächlich Erinnerungen waren oder reines Wunschdenken.

Die Brandursache war nie geklärt worden. Nicht einmal Überreste meiner Eltern hatten die Ermittler finden können. Die meiner Oma mütterlicherseits ebenfalls nicht. Wie mein Vater war ich durch tragische Umstände zur Vollwaise geworden, kein einziger lebender Verwandter war mir geblieben und allein Sam hatte ich zu verdanken, nicht in einem Heim gelandet zu sein. Es grenzte an ein Wunder, sagten die Leute, dass ich das flammende Inferno überlebt hatte, und niemand konnte sich erklären, warum mein Zimmer teilweise vom Feuer verschont geblieben war.

Seufzend verlagerte ich meinen Fokus wieder auf den Inhalt der Schatulle. Neben der feingliedrigen silbernen Kette mit dem naturbelassenen Lapislazuli, die ich, soweit meine Erinnerungen zurückreichten, um meinen Hals trug, waren das Foto in der Schatulle und eine schwarze Feder alles, was in Verbindung zu meiner Vergangenheit stand. Ich war unendlich dankbar dafür, wenigstens diese Kleinodien mein Eigen nennen zu dürfen. Wenngleich sie mich auch vor schier unlösbare Rätsel stellten. Vor allem die faszinierend silbrig schimmernde Feder, die anschmiegsamer, weicher und biegsamer zu sein schien als alles, was ich jemals berührt hatte. Die scheinbar schwebte, obwohl sie es nicht tat, aber dennoch die Gesetze der Schwerkraft brach, und deren metallischer Klang, wann immer ich sie zurück in das Kästchen legte, mir einen seltsam bedrückenden heißkalten Schauer durch den gesamten Körper jagte.

 


Ende der Leseprobe

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