Dark Heart 2: Omnia

Erschienen am 19.08.2021


Klappentext

**Wenn deine Liebe über Leben und Tod entscheidet**

 

Nach den dramatischen Ereignissen in der kanadischen Wildnis ist Heaven am Boden zerstört. Die Wahrheit über Leviathan und ihre gemeinsame Vergangenheit lässt ihr Herz in tausend Stücke zerspringen. Tief traurig und enttäuscht verlässt sie mit ihrem Onkel Port Hardy und kehrt zurück nach Lincoln. Zu ihrem Erstaunen soll nun das Vagabundenleben vorbei sein. Aber bevor dieser Traum in Erfüllung gehen kann, muss Heaven zunächst ein Schul-Sommercamp besuchen. Widerwillig lässt sie sich darauf ein und trifft dort auf den gutaussehenden und extrem arroganten Silas, der ein seltsames Interesse an ihr zu haben scheint. Doch hinter der Fassade des vermeintlichen Schülers steckt ein gefährliches Wesen, dem nur Leviathan Einhalt gebieten kann ...

 


The Light of You

defeats

the Dark in Me

 

Licht durchbricht alles, selbst die finstersten Schatten.


! Die Leseprobe beginnt mit Spoilern zu Band 1 !

 

Leseprobe

Kapitel 1

 

 

»Vor dreizehn Jahren. In der Nacht, in der deine Eltern gestorben sind …«

Levis Worte trafen mich hart wie ein Faustschlag im Magen, der mir die Atemluft aus den Lungenflügeln presste. Gleichzeitig fühlte es sich an, als hätte er ein stumpfes Messer in meine Brust gerammt und die Klinge wäre abgebrochen. Keuchend wickelte ich meine Arme um mich, weil ich fürchtete jeden Moment in meine Einzelteile zu zerspringen. Die beiden schwarzen Federn, die mich mitten in der Nacht zu ihm geführt hatten, entglitten meinen Händen, fielen wie in Zeitlupe zu Boden und ein leises metallisches Geräusch durchbrach die unheilvolle Stille, machte das Unfassbare beängstigend realistisch.

»Was hast du getan?«, hörte ich mich sagen, doch erkannte ich meine eigene Stimme nicht. »O mein Gott … was hast du nur getan?«

Um mich herum brach scheinbar alles zusammen. Tränenblind nahm ich nur noch Schemen wahr. Ich bekam kaum Luft, glaubte in den Trümmern meines eingestürzten rosaroten Wolkenschlosses zu ersticken.

Er war es gewesen. Er hatte mein Leben zerstört. Er hatte mir alles genommen.

Und ich? Ich hatte mich gegen jede Vernunft, trotz aller Warnzeichen, in ein überirdisches Wesen verliebt, das meine Familie getötet hatte. Mir wurde schlecht und meine Knie so instabil, dass ich mich mit letzter Kraft an einen der Fachwerkbalken festklammerte, die Levis wandloses Haus zwischen Schlaf- und Wohnbereich stützten, um aufrecht stehen zu bleiben.

»Du musst atmen, Heaven«, drang aus weiter Ferne eine Stimme an mein Ohr. »Atme!«

Warme Hände legten sich auf meine Wangen, umschlossen mein Gesicht. »Atme«, hörte ich Levi nun deutlicher, als würde mich die Berührung erden, mich aus dem überemotionalen Niemandsland zurückbringen, obwohl er die Wurzel allen Übels verkörperte, das über mich hereingebrochen war.

»Warum?«, wimmerte ich. »Warum hast du das getan?«

Levi ließ mein Gesicht los, zog mich an seine Brust und hielt mich in seinen Armen. Ich sträubte mich, aber mir fehlte die Kraft, etwas gegen ihn auszurichten.

»Ich habe deine Eltern nicht angerührt.« Seine Umarmung wurde trotz meines schwachen Widerstands fester. »Hörst du? Ich habe sie nicht angerührt. Das musst du mir glauben.«

Ich verstand, was er sagte, doch seine Worte ergaben keinen Sinn. Mit beiden Händen stemmte ich mich gegen seine Brust. Diesmal ignorierte er meine abwehrende Haltung nicht, sondern gab meinem dringenden Bedürfnis, auf Abstand zu gehen, nach.

»Wie soll ich dir überhaupt jemals wieder irgendetwas glauben?«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme.

Angespannt rieb er sich über die Stirn, fuhr mit beiden Händen durch seine verwuschelten Haare und verschränkte sie im Nacken, während er mehrfach konzentriert ein- und ausatmete. Seine Augen wechselten flackernd die Farbe. Blau. Silber. Schwarz. Er kämpfte mit seinem inneren Dämon.

Eine fürchterliche Leere breitete sich in mir aus. Ich hatte ihm vertraut. Von Anfang an. Aber jetzt nicht mehr. Selbst wenn er mir Antworten auf all meine Fragen geben würde, hätte ich die Glaubhaftigkeit seiner Worte infrage gestellt. Dennoch musste ich wissen, was in jener Nacht geschehen war.

Levi gab seine Haltung auf, ließ die Arme sinken und machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. Dadurch blieb die Distanz zu ihm unverändert, wirkte räumlich betrachtet minimal. In meinem Inneren sah es jedoch anders aus. Eine gigantische Kluft hatte sich zwischen uns gebildet.

»Vertrau mir, Heaven, bitte …«, erwiderte er matt. »Alles zu seiner Zeit. Ich –«

Langsam und bestimmt schüttelte ich den Kopf.

Levi verstummte. Er befeuchtete seine Lippen, bevor er weitersprach. »Zwing mich nicht dich noch mehr zu verletzen.«

Meine ohnmächtige Verzweiflung wandelte sich in enttäuschte Wut. »Noch mehr?«, wiederholte ich spöttisch. »Das schaffst du nicht …«

Levi schluckte hart. »Gut«, sagte er leise. »Wenn du meinen Worten keinen Glauben mehr schenken kannst, werde ich dir zeigen, was in der Brandnacht geschehen ist.«

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und straffte die Schultern. Sein Blick veränderte sich, wurde fremd, ging durch mich hindurch, als würde ich nicht existieren. Der unruhige Farbwechsel seiner Augen verlangsamte sich. Das kristallklare Blau schwand zuerst, zurück blieb das flüssige Silber, ehe sich die undurchdringliche Schwärze ausbreitete, seine Haut den wunderschönen ätherischen Alabasterton annahm, sich das lebendige Blond seiner Haare zusehends verdunkelte, in tiefstes Schwarz überging und sich seine mächtigen Schwingen rauschend ausbreiteten. Dann stand der Dark Heart in all seiner zerstörerischen Pracht vor mir.

Meine innere Unruhe wuchs, steigerte sich, bis sie kaum mehr auszuhalten war. Ich wollte – nein, musste – erfahren, was in jener Nacht geschehen war, so sehr ich mich davor fürchtete, daran zu zerbrechen.

Wie in Zeitlupe streckte er mir seine offene Hand entgegen, wartete darauf, dass ich sie ergriff. Ich streifte den Rucksack von meiner Schulter, ließ ihn zu Boden fallen und kam ihm, ohne zu zögern, entgegen, obwohl sich alles in mir dagegen wehrte. Mich auf ihn einzulassen, ihm ein letztes Mal zu vertrauen, kostete mich größte Überwindung.

Der Dark Heart zog mich ganz nah an sich heran. Trotz allem, was er mir angetan hatte, gelang es mir nicht, mich dem betörenden Sog seines finsteren göttlichen Wesens zu entziehen. Egal, wie angestrengt ich dagegen ankämpfte, die Anziehungskraft war so viel stärker als ich, durchströmte jede Faser meines Körpers.

»Was auch immer gleich passiert«, flüsterte er, »du darfst unter keinen Umständen die Verbindung mit mir kappen. Wenn du das tust, Heaven, wird deine Seele in der Vergangenheit zurückbleiben und ich werde dich nicht retten können.«

Ich nickte. Dieses Risiko musste ich eingehen. »Das bedeutet, ich sterbe im Hier und Jetzt?«

»Ja.«

Ein hoher Preis, der höchste von allen. Dennoch war ich bereit ihn zu zahlen, um endlich die Wahrheit über den Verlust meiner Familie zu erfahren.

»Okay.« Das nervöse Pochen meines Herzens nahm zu. Ich spürte es im Hals und es hallte in meinen Ohren wider.

»Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst?«

»Absolut sicher.«

Die Miene des Dark Heart wirkte genauso unergründlich wie seine Augen, während sich seine Flügel um mich legten, mich einwickelten und so eng umschlossen, bis ich glaubte unsere Körper würden miteinander verschmelzen. Dann spürte ich eine Hand in meinem Nacken, die andere an meiner Taille. Der wundervolle Duft voller Widersprüchlichkeiten verstärkte sich, kroch mir verführerisch in die Nase und vernebelte meine Sinne, ehe der Dark Heart sich langsam nach vorne beugte und ich sein überirdisches Flüstern vernahm. »Du wirst in meinem Körper sein, über meinen Verstand verfügen und durch meine Augen sehen. Was du fühlst, wird nicht unter meinem Einfluss stehen, aber du darfst dich nicht davon leiten lassen, wenn du dir selbst gegenüberstehst. Egal, wie sehr du dir auch wünschen wirst das Unvermeidliche aufzuhalten, versuch es gar nicht erst, denn es wird dir nicht gelingen. Die Vergangenheit ruht unumstößlich in sich und ist durch nichts und niemanden veränderbar.«

Ich war nicht fähig, in irgendeiner Art darauf zu reagieren. Dafür hatte mich der verzehrende Sog bereits viel zu sehr vereinnahmt. Ganz so, als stünde ich unter einem Bann und wäre kein Teil dieser Welt mehr.

Die Lippen des Dark Heart legten sich auf meine, besiegelten den Pakt endgültig, hüllten mich in dunklen Nebel, brachten mich zum Schweben und lösten mich von allem Irdischen los, während Raum und Zeit wie zarte Wolkengebilde an mir vorbeihuschten.

 

***

 

Nebraska, Pleasent Dale, dreizehn Jahre zuvor …

 

Umgeben von meinen Brüdern stand ich im Schutze der Dunkelheit zwischen den Bäumen und Sträuchern des gepflegten Gartens und beobachtete durch die großen Fenster das Treiben im Inneren des Hauses. Mutter, Vater, Großmutter und Kind saßen fröhlich um einen reich gedeckten Tisch, feierten Thanksgiving im engsten Kreis der Familie.

Ich wandte mich nach rechts, blickte rüber zu unserem Anführer. »Stib tu rid reel chersi, as tu as zrudien stilwe, rebdur?« Bist du dir wirklich sicher, dass du das durchziehen willst, Bruder?

Lucian machte sich nicht die Mühe, mich anzusehen. Er befand sich bereits in einem Tunnel, der lediglich in eine Richtung führte. »Se biet run nesied niene gew.« Es gibt nur diesen einen Weg.

»Lucifer driw as nihe nagalef.« Lucifer wird das nicht gefallen.

»Re bistes ekine uer ichem!« Er besitzt keine Macht über mich!

Damit hatte er bedingt recht. Lucifer verbüßte seine Strafe in einem von Engeln bewachten Verlies tief unter der Erde. Eine direkte Bedrohung ging also nicht von ihm aus. Andererseits brachten uns Lucians Arroganz und blinder Zorn immer wieder in Schwierigkeiten, aber ihn jetzt im Stich zu lassen, wo Jekon und Elian sich bereits von uns abgewandt hatten, war keine Option. Dieses eine Mal würde ich ihm noch gegen meine Überzeugung folgen. Was er verzweifelt suchte und in den falschen Händen unser aller Untergang herbeiführen würde, musste sich hinter den Gemäuern dieses Hauses befinden.

Ich zog mich ein Stück zurück und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm eines knorrigen Laubbaums, dessen Blätter alle Farben des Herbstes trugen. Links von mir hielten sich Nilas, Dakon und Milias hinter zwei Tannen verborgen. Sie verharrten regungslos auf der Stelle, warteten wie wir alle darauf, dass die Bewohner des Hauses zu Bett gingen. Zeit besaßen wir schließlich im Überfluss, nur Lucian zeigte die ersten Anzeichen von Ungeduld. Der Wind nahm zu und Wolken bildeten sich am sternenklaren Nachthimmel.

Das kleine, blonde Mädchen stand auf, umarmte ihren Vater und gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss, danach ging sie zu ihrer Großmutter und das Szenario wiederholte sich. Die Mutter erhob sich ebenfalls, nahm ihre Tochter auf den Arm und die beiden verließen den Raum.

Ein seltsamer Druck baute sich in meinem Brustkorb auf, wie ich ihn nie zuvor verspürt hatte. Mich beschlich die Vermutung, unabhängig von der Anwesenheit meiner Brüder nicht allein zu sein. Irgendetwas stimmte nicht.

Über das Rauschen der Blätter im Wind legte sich für den Bruchteil von Sekunden ein anderes Geräusch und mir wehte ein vertrauter Geruch in die Nase, den ich zuletzt vor Tausenden von Jahren wahrgenommen hatte. Eine nahezu unwiderstehliche Süße lag in der Luft. Pudrig, mit einer lieblichen Honignote und einem Hauch herben Weihrauchs. Betörend für die Menschen – der unverkennbare Duft himmlischer Geschöpfe.

Lucian sprach meine Gedanken aus. »Shemyaza dun Armoniel.« Shemyaza und Armoniel.

»Che emnen ichem rehir na.« Ich nehme mich Ihrer an. Entschlossen stieß ich mich von dem dicken Baumstamm ab. Seit einer Ewigkeit in unserer Unendlichkeit waren wir nicht mehr auf die letzten zwei der ehemals zweihundert Grigori getroffen, die uns seit jeher jagten, um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wiederherzustellen.

Bevor ich Lucian den Rücken zuwandte, erinnerte ich ihn an unsere Abmachung. »Erab ovide nihe, sret si shey lefas.« Aber vergiss nicht, erst wenn sie schlafen.

Dakon tauchte neben mir auf. »Che redew chid glieten.« Ich werde dich begleiten. Seine Stimme klang wie ein langgezogenes Knurren. »Armoniel dun che nabah nien ohn nurgech fenof.« Armoniel und ich haben noch eine Rechnung offen. Die Verletzungen, die der Grigori ihm nach dem Niedergang des schönsten aller Himmel zugefügt hatte, entstellten ihn bis heute. Ein Ohr und zwei Finger hatte ihn der Kampf mit ihm gekostet. Die ehemaligen Wächterengel konnten uns mit ihren Schwertern verletzen, jedoch nicht töten. Dafür benötigten sie, was sich im Inneren des Hauses verbarg. Sie waren also aus demselben Grund wie wir hierhergekommen.

Ich nickte. »Os ies se.« So sei es.

Dakon hüllte uns in schwarzen Nebel und wir verschmolzen mit der Dunkelheit. Lautlos bewegten wir uns durch die Nacht, alle Sinne geschärft, wie die eines ganzen Rudels von Raubtieren. Unsere Instinkte führten uns dorthin, wo wir die Grigori vermuteten.

»Ieseht tu shey?« Siehst du sie?, hörte ich Dakons Frage in meinem Kopf.

»Ineh.« Nein, erwiderte ich gedanklich. »Erab che chiere shey.« Aber ich rieche sie. »Shey enok nihe tiew snije.« Sie können nicht weit sein. Der penetrant süße Geruch und ihre starke Präsenz verrieten mir, sie befanden sich in unmittelbarer Nähe. Eine unsichtbare, nicht greifbare, dafür deutlich spürbare Aura strömte durch die Luft.

Zeitgleich zogen wir unsere Schwerter. Die schwarzen Klingen, geschmiedet in den Flammen des ersten Feuers der Aori, dem Urvolk unserer elbischen Mütter, fügten ihren Gegnern unheilbare Wunden zu und brachten jedem Wesen den Tod. Auch den Grigori, deren unumstrittenem Mut ich größten Respekt zollte. Ohne himmlische Unterstützung kämpften sie jedoch auf verlorenem Posten.

Dann war es plötzlich da, wie aus dem Boden gewachsen, das gleißende Licht zweier Flügelpaare und ich stieß einen Warnruf aus.

»Terni rid!« Hinter dir! Im selben Moment schnellte ich nach vorne, um einen der beiden Schwerthiebe gegen meinen Bruder abzufangen. Glänzendes Palladium traf mit zerstörerischer Wucht auf mattes Tantal. Metallfunken stoben umher, während sich die Klingen kräftemessend aneinanderrieben und mein Gegner sich zu erkennen gab.

»Shemyaza«, sprach ich seinen Namen aus und verneigte mich respektvoll vor ihm, ohne den einstigen Hauptmann der Grigori aus den Augen zu lassen. Jedwede Fahrlässigkeit hätte fatale Folgen für mich gehabt.

»Leviathan«, erwiderte er und für den Bruchteil einer Sekunde ließ der Widerstand seiner Waffe nach.

Ich nutzte die Gelegenheit, drängte den gefallenen Engel zurück, um Dakon mehr Raum zu verschaffen, der sich mit Armoniel bereits einen verbitterten Schlagabtausch lieferte.

Die Langschwerter zwischen uns gekreuzt stand ich Shemyaza Auge in Auge gegenüber.

»Og aslen tu ohn nast.« Geh, solange du noch kannst. Sein bedrohliches Zischen entlockte mir lediglich ein verächtliches Schnauben.

»Sla go tu ej nien oncey egan ichem stahe, istermi.« Als ob du je eine Chance gegen mich hättest, Meister. Ich holte zum Schlag aus. Obwohl er mich die Kampfkunst gelehrt hatte, wusste er genau, dass er mir unterlegen war, wenn er nicht in den Besitz dessen kam, wonach alle strebten und das uns in dieser Nacht an diesen Ort geführt hatte. Shemyaza zu unterschätzen wäre jedoch töricht gewesen, denn er verfügte über eine Schnelligkeit, die ihresgleichen suchte. Nicht umsonst hatte er einst zu den Hauptmännern der Grigori gezählt.

Hieb um Hieb trafen unsere Schwerter hart aufeinander, wir schenkten uns nichts. Metallisches Klingen und Surren fernab der menschlichen Hörsequenz erfüllte die Stille, umgab uns wie betörender Gesang. Zwei geschickte Schwertstreiche wehrte ich mit meinen Flügeln ab, erwischte ihn mit ihrem messerscharfen Rand am Oberarm. Ich hatte ihn nur oberflächlich getroffen und der Schnitt war nicht besonders tief war, dennoch floss augenblicklich Blut. Keuchend wich er zurück. Ich setzte nach, holte zu einem weiteren Schlag aus.

Unterdessen brach Armoniel mit Dakons Schwertspitze in der Kehle neben mir röchelnd zusammen und hauchte seine Seele aus, die sogleich samt seinem Körper von unirdischen Lichtstrahlen hinauf in den Himmel getragen wurde. Der Grigori hatte für seine Erlösung gekämpft und sie war ihm vom Schöpfer gewährt worden. Dann hallte ein gellender Schrei durch die Nacht und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Meine Unachtsamkeit bezahlte ich mit einem seitlichen Schlag in die Taille, ehe Shemyaza ebenfalls innehielt und einen Wimpernschlag später verschwand. Obwohl ich keinen Schmerz fühlte, wusste ich, er hatte mich erwischt. Flüssigkeit sammelte sich zwischen meiner Haut und der ledernen Rüstung, rann mein Bein hinab, doch die Verletzung kümmerte mich nicht. Stimmen und Gedanken überschlugen sich, die Sprache der Aori vermischte sich mit der menschlichen. Ich konnte die Angst riechen. Und Rauch. Lucian hatte unsere Absprache gebrochen und wie so oft die Kontrolle über den Zorn verloren, der ihn seit jeher wie keinen anderen von uns beherrschte.

Blitzschnell eilte ich zum Haus. Dakon folgte mir und seine Gedanken jagten durch meinen Kopf. »Riw tellon ekin sehanef gerren. Tu straew red esebre alpha.« Wir wollten kein Aufsehen erregen. Du wärst der bessere Anführer.

»Che iswe.« Ich weiß, erwiderte ich stumm. Dakons Loyalität galt allein mir. Auch die abtrünnigen Dark Hearts Jekon und Elian hatten daraus nie ein Geheimnis gemacht. Aber einen Bruderkampf um das Privileg des Anführers anzuzetteln, lag mir fern.

Hitze und dunkler Rauch schlugen uns entgegen, als wir nacheinander das lichterloh brennende Gebäude betraten. Die Flammen zerfraßen die Möbel, leckten an Wänden und Decken, breiteten sich auf einer Holztreppe, die nach oben führte, wie ein züngelnder Teppich aus. Dakon drückte sich an mir vorbei, verschaffte sich Zutritt in den Raum, den wir vom Garten aus beobachtet hatten. Ich wollte ihm nach, versuchen das Schlimmste vielleicht doch noch zu verhindern, da drang ein zartes Wimmern durch das laute Knistern des Feuers zu mir vor. »Mommy, Daddy …« und ein schwindendes »Leviathan … beijt …« Leviathan … bitte … röchelte durch meine Gedanken.

Ich begrenzte das Inferno in der oberen Etage, damit die züngelnden Flammen das Zimmer des kleinen Mädchens nicht erreichten, und wandte mich dem Raum zu, in dem die Wurzel des Übels tobte – Lucian.

Dakon kam mir auf halbem Weg entgegen. »Riw ommnen las aest. Shey isne morte.« Wir kommen zu spät. Sie sind tot.

Ich nickte. Was geschehen war, war geschehen und konnte nicht rückgängig gemacht werden.

Vereinzelt schwebten Federn umher. Schwarz, teilweise silbrig glänzend und weiß. Der Vater des Kindes hatte nicht kampflos aufgegeben und Shemyaza war hier gewesen, hatte aber gegen die Überzahl meiner Brüder nichts ausrichten können.

Langsam schritt ich weiter. Unter meinen Stiefeln knirschte zerbrochenes Glas und geborstenes Holz. Die Dark Hearts zollten ihrem selbsternannten Anführer größten Respekt, hielten ihn für den stärksten. Lucian galt für sie als unantastbar. Doch kannten sie ihn nicht so wie ich. Ich senkte meine Lider, konzentrierte mich auf all meine Stärken, bündelte die negative Energie der Sünden, die uns ausmachten, und betrat das brennende Zimmer. In all dem Chaos suchte ich das von wahrem Irrsinn und reiner Mordlust gezeichnete Gesicht Lucians und fand es zwischen züngelnden Flammen und Rauchwolken. Ein diabolisches Grinsen umspielte seinen Mund. Er hatte nicht bekommen, wonach er suchte und sie dafür mit dem Tode bestraft. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn in diesem Zustand sah, der die anderen Dark Hearts vor seiner scheinbaren Allmacht zurückweichen ließ. Der totale Kontrollverlust schwächte ihn vorübergehend und den Moment musste ich nutzen, solange er anhielt.

Unsere Blicke verbanden sich. Blitze zuckten zwischen uns auf. »As stagwe tu nihe.« Das wagst du nicht. Seine Drohung ließ mich kalt.

»Principium dun finis renieve chers ni amare, red insterni omnir imperiale.« Anfang und Ende vereinen sich in Liebe, der reinsten aller Mächte. Wie leises Gewittergrollen klang meine Stimme und gab eine Beschwörungsformel wieder, die mich einst mein Vater gelehrt hatte. »Incumbe chid rehir, tenebris cordis.« Beuge dich ihrer, finsteres Herz.

Blendend weiße Lichtstrahlen erfassten den Körper Lucians, zwangen ihn keuchend in die Knie und nahmen die Dunkelheit von ihm. Zurück blieb sein zitterndes menschliches Abbild. Von langer Dauer würde der Bann nicht sein, doch zumindest für einige Stunden hatte ich Lucian seines Zorns beraubt.

»Toffas ihem ortis onve rihe. Che redigle sad relique ellin.« Schafft ihn fort von hier. Ich erledige den Rest allein.

Trotz ihrer eigentlichen Ebenbürtigkeit neigten meine Brüder ihre Häupter vor mir und nahmen sich Lucians an. Regungslos beobachtete ich, wie sie ihn hinaus in die Nacht trugen, sich in schwarzen Nebel hüllten und entschwanden.

 

Danach richtete sich mein Augenmerk auf die sterblichen Überreste der Menschen, die zweifellos versucht hatten einander zu beschützen. Ich beugte mich zu ihnen hinab, wollte ihre leblosen blauen Augen für immer schließen, als plötzlich tief in meinem Inneren etwas mit aller Gewalt an mir zerrte, während aus weiter Ferne ein markerschütternder Schrei einem schaurigen Schluchzen gleich durch meinen Kopf jagte. »MOM! DAD! …«

 


Ende der Leseprobe

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