Winter of Love - Julia & Reed

Erschienen am 05.12.2019


Klappentext

 

Julia hat ihren Romeo getroffen. Naja, zumindest auf der Bühne. Sie studiert an der School of Cinematic Arts in Kalifornien und spielt an der Seite des unwiderstehlich süßen Reed Sanders die Hauptrolle in Shakespeares Romeo und Julia. Aber dann küsst Reed sie unverhofft auch im echten Leben und verschwindet danach einfach. Verwirrt bricht sie über die Weihnachtsfeiertage in ihre idyllische, kleine Heimatstadt in Österreich auf, wo sie sich von ihren besten Freundinnen Ablenkung erhofft. Doch wer hätte gedacht, dass Romeos auch Ski fahren ...

 


Leseprobe

Kapitel 1

Romeo und Julia

»You’re just too good to be true … I can’t take my eyes off you …«

In dem kleinen Campus-Café Writer’s Tears, das an Gemütlichkeit kaum zu überbieten war, wurde es mucksmäuschenstill und mir blieb ein Stück Brötchen im Hals stecken, während ich beobachtete, wie Dallas sich singend vom Eingang auf mich zu bewegte. Ich hustete mehrfach und trank an meinem Milchkaffee, um die kratzenden Krümel zu vertreiben.

In der Mitte des vom Jungendstil inspirierten Raumes ging er in die Knie, rutschte auf selbigen zu meinem Sitz und rezitierte dabei mehr schlecht als recht aus Romeo und Julia. Unter seinem permanent zerzausten dunkelblonden Schopf schauten mich herzerweichende hellblaue Knopfaugen an. Trotz ihres unschuldigen Blicks konnten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass der dazugehörige Mensch es faustdick hinter den Ohren hatte.

»Julia, ooh … Julia.« Er fasste sich dramatisch ans Herz. »Verschmähst du meine Pilger, will ich fortan kein Capulet mehr sein.« Voller Innbrunst biss er in den Rest meines Marmeladenbrötchens, zerrte es mir knurrend aus der Hand und verschlang es binnen Sekunden.

Die Leute an den umliegenden Tischen konnten sich das Lachen nur schwer verkneifen. Ich versuchte es gar nicht erst, denn es war zwecklos.

»Du bist so was von peinlich.«

Dallas war eine wandelnde Naturkatastrophe und bekannt wie ein bunter Hund. Es juckte ihn absolut null, was andere über ihn dachten, und manchmal erinnerte er mich mit seiner schmerzfreien Art an meine ziemlich beste Freundin Lina.

»Romeo ist übrigens ein Montague. Als sein bester Freund solltest du das eigentlich wissen.«

»Besserwichser«, brummte er im Aufstehen und ließ sich mir gegenüber in einen freien Sessel fallen.

»Besserwisser«, korrigierte ich ihn kichernd.

Mehrsprachigkeit war ein weit verbreitetes Phänomen unter den von Haus aus reichen amerikanischen Studenten an der USC und Dallas beherrschte meine Muttersprache relativ gut. Er redete gerne Deutsch mit mir, aber manchmal haute er Versprecher und Wortkonstruktionen raus, da blieb einem die Spucke weg.

»Just what I’ve said.« Grinsend nahm er sich meinen Milchkaffee und trank ihn halb leer.

»Wolltest du nicht schon vor einer Stunde hier sein?«

»Sorry.« Er wippte vielsagend mit seinen dichten Augenbrauen. »Sexkoma.«

»Wen hast du diesmal abgeschleppt?«

»Rosalinde.« Dallas leckte sich genüsslich über die Lippen und lehnte sich breitbeinig in dem antiklederbezogenen Ohrensessel zurück. »And she is hungry like a wolf. Wie sagt man? Unersetzlich.«

»Unersättlich.«

»Yes!« Das anzügliche Grinsen reichte bis zu seinen kleinen Ohren und lupfte sie um wenige Millimeter nach oben.

»Kennst du überhaupt ihren richtigen Namen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ist das wichtig, wenn die bodylanguage stimmt? I mean, sie ist extremely biegs-«

»Erspar mir die Details«, unterbrach ich ihn und hielt mir mit einem »Lalala« kurz die Ohren zu.

Er lachte. »Aber vielleicht könntest du was daraus lernen.«

»Unwahrscheinlich.«

Ich gab der Bedienung ein Zeichen und sie kam zum Abkassieren sofort zu uns an den Tisch. Unterdessen killte Dallas den Rest meines Milchkaffees.

»Nur für die Akten«, sagte ich im Aufstehen, »sie heißt Susan Roberts.«

»Who cares?« Er zuckte gleichmütig mit den Schultern und hievte sich aus dem Sessel. »Let’s talk about sex, baby, let’s talk about you and me …«, stimmte er sichtlich amüsiert einen alten Salt ’n’ Pepa-Song an und legte den Arm um mich.

»Niemals«, schmunzelte ich.

»Schade«, lächelte er. »Du bist nämlich ein verdammt heißer Besen.«

»Feger.«

»Oder so.« Dallas drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange. »C’mon Sweets, sonst kommen wir deinetwegen zu spät zur Generalprobe.«

»Du machst mich echt fertig«, stöhnte ich. »Weißt du das eigentlich?«

»Jep!« Er verkniff sich ein Lachen und zwinkerte mir zu. »Wofür bin ich sonst da?!«

 

***

 

Die letzte Probe für die moderne Inszenierung von Romeo und Julia, basierend auf der Film-Adaption des Regisseurs Baz Luhrmann, war nicht ganz katastrophenfrei verlaufen, was jedoch kein schlechtes Omen sein musste. Im Grunde war es sogar ein sehr gutes. Rosalinde war mit ihrem Maskenballkleid an einer Kulisse hängen geblieben und hatte sich den bodenlangen Rock von der Taille abwärts bis zum Saum zerfetzt. Benvolio hatte neben Tybalt mit mehreren Texthängern geglänzt und spätestens beim Anblick von Dallas als Mercutio, der zu dem Song Young hearts run free auf Highheels in weißem Bustier, mit Minirock und Lockenperücke eine dragqueenwürdige Performance hingelegt hatte, war uns allen die Professionalität flöten gegangen. Es hatte uns vor Lachen beinahe aus den Schuhen gehauen – phänomenal, der Kerl.

Ich musste immer noch grinsen, wenn die schrägen Bilder durch meine Gehirnwindungen schossen, obwohl das Lampenfieber mich bereits seit dem Aufstehen am frühen Morgen fest im Würgegriff hielt. Es wollte mir einfach nicht gelingen auch nur eine winzige Textzeile zu zitieren. Und das, wo ich doch schon in wenigen Stunden die weibliche Hauptrolle verkörpern sollte. Da half es wenig zum x-ten Mal den Inhalt meines Koffers durchzugehen, um sicherzustellen, ob ich für das langersehnte Weihnachtsfest zu Hause mit all meinen Lieben auch wirklich alles eingepackt hatte. Insbesondere natürlich die Geschenke. Was mir jedoch zumindest ein klitzekleines bisschen half, war der Blick in den Gruppenchat mit meinen Freundinnen, der maßgeblich dazu beitrug, dass wir uns trotz des neunstündigen Zeitunterschieds nicht aus den Augen verloren. Genaugenommen lebten sie in der Zukunft und ich in der Vergangenheit, auch wenn es sich für mich genau andersherum anfühlte, denn zu Hause stand für Vergangenes und meine Zukunft lag in den Staaten. Ich liebte den American Way of Life einfach zu sehr, um ihn jemals wieder aufgeben zu wollen.

 

         Anna: Hey Süße! Glaub an dich! Ich tue es auch!! Fühl dich gedrückt! Freu mich auf dich.      <3<3<3

 

Es folgte ein total verschlafenes Selfie. Den Kopf tief im zerknautschten Kopfkissen vergraben, zwinkerte sie halb schielend in die Kamera. Ihr dunkler Bob war so katastrophal verwuschelt, dass er wie ein verlassenes Vogelnest wirkte.

 

        Elli: Scheiße Mann! Ich würde dich so gerne live sehen, aber lange dauert es ja nicht mehr. ;-*

 

Gleich darunter kam ein Foto mit ihrem eigenen gedrückten Daumen und dem eines Mannes – vermutlich war es der ihres Freundes Ben. Dem Hintergrund nach zu urteilen, befanden sie sich in einem hippen Szenelokal ihrer Wahlheimat Berlin.

 

        Lina: Guck mal. J <3

 

Das Bild zeigte einen Minischneemann auf einem verschneiten Balkon und daneben stand ein schlichtes »Viel Glück!« in den Schnee geschrieben.

Die Zeit drängte zwar langsam, aber ich musste ihnen unbedingt noch antworten.

 

      Julia: Awww – ihr seid so toll! Wisst ihr das eigentlich? Gruppenkuscheln wird ganz bald nachgeholt. Freu     mich auf euch! Kisses & Hugs. <3 :-*

 

Nervös bis in die Fingerspitzen steckte ich das Smartphone in meine Schultertasche. Zehn Minuten. Hektik vermischte sich mit Anspannung und ich hetzte durch mein 19,5-Quadratmeter-Apartment.

Wo zum … Kackekackekacke … Scheißmistverdammaaah …

Auf einem Bein hüpfend zog ich meinen zweiten Schuh an, trank angewidert den Rest des Baldriantees, spuckte ihn gleich wieder zurück in die Tasse und schlüpfte in meine ausgeleierte hellgraue Lieblingsstrickjacke. Mittlerweile reichte sie mir bis über die Knie und war eher zu einem Mantel geworden. Aber ich konnte mich einfach nicht von ihr trennen, weil meine Oma sie für mich gemacht hatte.

Mit dem zweiten Ärmel kämpfend schlug ich die Tür hinter mir zu, flitzte über den langen Korridor an gefühlt tausend durchnummerierten Türen vorbei zum Treppenhaus, rannte zwei Stockwerke nach unten und verließ mit luftleerem Raum zwischen den Ohren fluchtartig das Troy East Studentenwohnheim im North University Park.

 

***

 

Hinter den Kulissen herrschte das blanke Chaos. Techniker waren am Werk, überprüften noch mal Lichtanlagen und Bühnenelektronik. Das gesamte Ensemble befand sich entweder im Kostüm- oder im Schminkraum. Diejenigen, die bereits fertig waren, tigerten in den Gängen herum und konzentrierten sich auf ihre Texte. Einige bekamen von den Effektleuten zum x-ten Mal die Blutbeuteltechnik erklärt und was genau dabei zu beachten war. Dazwischen versuchte die Regie-Gang für Ordnung zu sorgen.

Mit unzähligen »Hey«s, »Hallo«s und »Kann ich mal eben durch«s kämpfte ich mich bis zur Maske. Mary zog die Stirn kraus, tippte auf ihre Armbanduhr, als ich den schmalen Raum mit den zehn Plätzen betrat und winkte mich gleich nach ganz hinten durch.

»Wo hast du gesteckt?«, fragte sie, während sie mir die Schultertasche abnahm und mich gleichzeitig auf den beweglichen Stuhl drückte.

»Ich bin doch nur zwei Min-«

»Jede Sekunde zählt«, unterbrach sie mich und schnatterte weiter. Dabei huschten ihre braunen Augen prüfend über mein Gesicht. »Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst möglichst früh ins Bett gehen und nicht wieder mit Dallas um die Häuser ziehen?«

»War ich und bin ich nicht.«

»Nach viel Schlaf siehst du aber nicht aus«, murmelte sie und begann damit, die Grundierung aufzutragen.

»Konnte nicht einschlafen«, erwiderte ich, bemüht, dabei keine Miene zu verziehen und die Lippen so gut wie nicht zu bewegen. »Hab gelesen.«

Marys perfekt gezupfte Brauen schoben sich zusammen und trafen sich über ihrer Nasenwurzel. »Bis zum Frühstück?«

Ich zuckte mit den Schultern. Woher sollte ich wissen, wann genau ich eingeschlafen war?

»Dann wundert mich echt gar nichts mehr.« Stöhnend schüttelte sie ihren schwarzen Lockenkopf. »Ob ich aus dem übernächtigten Material etwas strahlend Unschuldiges zaubern kann, wird sich zeigen. Oder auch nicht … Stell dir vor …«

Mary redete in einem kaugummiartigen Texasslang, der ihre Worte teilweise so zerwalzte, dass ich die Hälfte ohnehin nicht verstand. Sie redete einfach immer weiter. Und weiter. Und weiter – scheinbar ohne Luft zu holen. Die Erklärungen, was sie gerade mit meinem Nachtschattengesicht anstellte, vermischten sich mit dem neuesten Campus-Gossip. Wer mit wem, wann, was, warum und wieso. Der One-Night-Stand von Rosalinde und Mercutio aka Susan und Dallas fehlte dabei genauso wenig wie der jüngste Hormonkoller von X, Y und Z, ausgelöst durch niemand Geringeren als Mr Reed-Unnahbar-Sanders, dem sie kurz vor meinem viel zu späten Auftauchen lediglich ein wenig die Nase gepudert hatte. Im Gegensatz zu mir war er nämlich naturschön.

Innerlich seufzend schloss ich die Augen und versuchte, mich auf meinen Text zu konzentrieren, der nach wie vor in nicht greifbaren Schwaden durch mein Gehirn waberte. Doch meine unkontrollierbaren Gedanken schweiften ab und verfolgten ihren eigenen Film – einen unrealistisch-romantischen Film, der nicht immer ganz jugendfreie Inhalte zeigte und seit Monaten immer mit ein und derselben Hauptrolle besetzt war: dem keine Maske brauchenden Reed – mein Romeo.

Dabei wollte ich das gar nicht. Aber irgendetwas hatte der große sportliche Typ mit den braunen Haaren und diesen unfassbar blauen Augen, deren Farbe nur mit dem tiefsten Punkt eines vom Sturm gepeitschten Ozeans zu vergleichen war, in mir ausgelöst. Und zwar genau in dem Moment, als er vor acht Monaten unangemeldet beim Vorsprechen aufgetaucht war. Mit seiner auffälligen Präsenz und der eindrucksvollen Darstellung des jungen Montague hatte er alle Anwesenden umgehauen.

480 Stunden hatten wir seitdem zusammen auf der Bühne gestanden, uns vor dem Ensemble mindestens genauso oft ewige Liebe geschworen, waren 249 dramatische Tode nebeneinander gestorben und hatten exakt 1089 Küsse ausgetauscht, die süchtig machten. Zumindest mich, denn Reed war Romeo. Perfekter, als ihn jedes Buch hätte beschreiben können.

Hinter den Kulissen blieb er mir ein anziehendes Buch mit sieben Siegeln. Er schenkte mir nicht einmal den Hauch eines Lächelns, wenn wir in derselben Vorlesung saßen, auf dem Campus aneinander vorbeiliefen oder Tisch an Tisch im Writer’s Tears unseren Kaffee tranken. Dallas bildete außerhalb des Theaters das einzige Verbindungsglied zwischen uns. Er war Reeds bester Freund und fernab der Heimat auch zu meinem geworden.

»Helloho Sweets!«

Wenn man an den Teufel denkt.

Die Stimme des Oberchaoten riss mich brachial aus meinen Tagträumereien. Unweigerlich zuckte ich zusammen und schreckte hoch. Etwas Feuchtes wischte über meine Wange und ich schlug die Augen auf. Die zuvor relativ gedämpfte Geräuschkulisse wurde vom Donner einer texanischen Schimpftirade durchbrochen.

Dallas drückte mir glucksend einen dicken Kuss auf die Stirn. »See you on stage, Rocky Horror«, flüsterte er mir amüsiert zu und verließ schleunigst die Maske.

Zeternd versuchte Mary den auffälligen Strich aus schwarzem Eyeliner von meinem Wangenknochen zu wischen und bemühte sich danach, die von der Reibung entstandene Röte wieder abzudecken. Nachdem sie fertig war, strich und tupfte sie an meinen Lidern herum. Danach tuschte sie mir hingebungsvoll die Wimpern und trat zur Seite, damit ich einen uneingeschränkten Blick in den Spiegel werfen konnte.

Wow …

Mary laberte zwar wie ein Wasserfall, aber wenn sie eins draufhatte, dann war es das Verzaubern von Gesichtern. Gekonnt hatte sie meine übernächtigte Haut in einen natürlichen Porzellanteint verwandelt. Braungrüne Augen schauten mir groß und strahlend aus dem Spiegel entgegen, von Müdigkeitsschatten war keine Spur mehr zu sehen. Auf meinen Wangen und Lippen lag ein zartes Rosé.

Noch bevor ich mich bei ihr bedanken konnte, machte sie sich an meinen langen dunkelbraunen Haaren zu schaffen, teilte sie in drei gleichgroße Partien, flocht sie locker zusammen und redete. Redete ununterbrochen. »Stell dir vor, heute Morgen habe ich doch tatsächlich Josh und diese …«

Ich schaltete auf Durchzug.

Als sie endlich fertig war, zupfte sie einzelne Strähnen aus dem Geflecht heraus, damit es so aussah, als wäre ich gerade aufgestanden. Selbstzufrieden lächelte sie über meinen Kopf hinweg in den Spiegel. »Fertig!«

»Danke.« Erleichtert stand ich auf. »Dann also … bis später.«

»Die von der Garderobe sollen sich ja nicht wagen, mein Kunstwerk zu zerstören«, rief sie mir wie ein Oberfeldwebel nach.

Auf dem Weg zum Kostümraum versuchte ich meine Nervosität mit verschiedenen Atemtechniken in den Griff zu kriegen und hoffte inständig, nicht zur ersten stillschweigenden Julia der Theatergeschichte zu werden. Schließlich waren bei der Aufführung jeder, der Rang und Namen innerhalb der USC besaß, sowie einige der berühmten Geldgeber anwesend. Warum konnten wir nicht einfach einen alten Stummfilm adaptieren, wo es nur auf dramatische Mimik und Gestik ankam? Die hatte ich seit frühester Kindheit in allen Lebenslagen drauf. Es steckte sozusagen in mir.

Ganz ruhig, du kriegst das auch mit Text hin! Irgendwie …

»I Jüli«, begrüßte mich Paulette, eine der Kostümfrauen, in gebrochenem Englisch über mehrere beschriftete, bereits halb leere Kleiderstangen hinweg.

Mir ging direkt das Herz auf. Ihr französischer Akzent war so niedlich, dass ich stets lächeln musste, wenn sie mit mir sprach. Ihr hätte ich stundenlang zuhören können.

»Hey«, erwiderte ich leise. Mein Blick huschte durch den überfüllten Raum, in dem scheinbar alles drunter und drüber ging. Ganz so, als würde niemand wissen, was zu tun war.

Ich atmete tief durch und näherte mich Paulette, die zwischenzeitlich das Nachtgewand für meinen ersten Auftritt in der 3. Szene des 1. Aktes vom Bügel genommen hatte und hinter einem Paravent auf mich wartete.

»Aufgeregt?«

Sie half mir, die Strickjacke auszuziehen.

»Und wie!«

Ich knöpfte meine Bluse auf und streifte sie von den Schultern, gleichzeitig kickte ich meine Schuhe von den Füßen.

»Das legt sisch, wenn dü erst mal auf die Bühn stehst«, munterte sie mich augenzwinkernd auf. »Arme och.«

Behutsam, damit weder die Frisur noch das Make-up ruiniert wurde, fädelte sie den hellen Baumwollstoff um meinen Körper. Die blonde Französin hob das knöchellange Hemd hoch und ich entledigte mich meiner Jeans.

Paulette zupfte so lange an dem schlichten Nachtgewand herum, bis sich ihr kritischer Blick entspannte. »Très bien«, murmelte sie konzentriert und legte behutsam den geflochtenen Zopf über meine Schulter, dessen beachtliche Länge bis über meine Brust reichte. Danach entspannten sich ihre mädchenhaften Gesichtszüge und ihre blass grünen Augen strahlten. »Serr schön! Jetzt bist dü bereit für deine Romeo.«

Äußerlich war ich das vielleicht. Innerlich herrschte jedoch immer noch Leere in allen Körperregionen. Der erste Beifallssturm hallte bis in den Backstagebereich und die akustischen Ausläufer schienen wie kaum sichtbare Nebelschwaden um mich herum zu tanzen.

Du Dramaqueen! Da tanzt rein gar nichts um dich herum.  Jetzt kneif endlich die Pobacken zusammen! Geh auf die Bühne und zeig allen, was du draufhast, hätte meine Freundin Elli in diesem Moment wahrscheinlich gesagt, wenn sie denn da gewesen wäre. War sie aber nicht.

Der erdbeerblonde Regieassistent blieb an der Tür stehen. Den Kopf seinem Klemmbrett zugewandt, schaute er über den Rand seiner Nickelbrille von der Tür zu mir rüber. »Julia, du bist gleich dran. Bühne 1. Nimm deine Position ein.«

Und schon war er wieder weg.

Mit einem leisen »Ffff« entlud sich mein aufgestauter Atem. »Okay. Jetzt wird’s dann wohl ernst.« Ich schluckte hart und drehte mir das Ende der Schleife, die den gerafften Ausschnitt verspielt zusammenhielt, so fest um den Zeigefinger, dass es mir das Blut abschnürte. »Also gut, ich … geh dann mal sterben.«

Paulette befreite meinen Finger von seiner Fessel. »Noch nischt, meine Übsche«, schmunzelte sie. »Spar dir das für die dritte Szen im fünften Akt auf.« Sie drückte mich kurz an sich. »Bonne chance.«

 

***

 

Als ich die abgedunkelte Bühne 1 betrat, schlotterten mir vor Aufregung die Knie und ich bekam feuchte Hände. Das Publikum im drehbaren Innenraum des beeindruckend großen Theaters starrte gebannt auf die gegenüberliegende Seite und verfolgte die Geschehnisse auf Veronas Straßen. Noch nahm niemand Notiz von mir, dennoch stand ich völlig neben mir und ich hätte schwören können, dass sich meiner trockenen Kehle kein einziger Ton entlocken lassen würde.

Die Straßenkulissen verdunkelten und sämtliche Zuschauer applaudierten. Langsam drehte sich der Innenraum und verlagerte nahezu geräuschlos den Blickwinkel der Menschen auf die Hauptbühne. Licht dimmte auf und mich überkam das Gefühl, mein Herz würde jede Sekunde stehen bleiben. Alle Synapsen schienen gleichzeitig durchzubrennen und die Textfetzen, die seit dem Aufstehen durch mein Gehirn jagten, verglühten augenblicklich zu Asche, obwohl Julias Zimmer, und somit das Bett, in dem ich vermeintlich schlummerte, noch im Dunkeln lag.

Stille.

Verhaltenes Räuspern. Schwaches Husten. Dezentes »Schhh«.

Ich hielt den Atem an.

Auftritt Gräfin Capulet.

»Ruft meine Tochter her; wo ist sie, Amme?«

Alles andere zog an mir vorbei, als wäre ich plötzlich taub geworden. Bloß der aufgewühlte Schlag meines Herzens hallte wie ein beunruhigendes Echo durch meine Gehörgänge.

Auftritt Amme.

»Wo ist das Kind? Julia?«

Spot an.

Im Automodus erhob ich mich schlaftrunken aus den weißen Laken und wie auf Knopfdruck war mein Text plötzlich wieder abrufbar. »Was ist? Wer ruft nach mir?«

Erleichterung durchflutete mich, spülte das Lampenfieber weg und zurück blieb nichts weiter als pure Freude darüber, endlich vor Publikum auftreten zu dürfen. Das war alles, was ich mir seit frühester Kindheit gewünscht hatte und nun konnte ich meinen Traum ein Stück weit leben.

Die Menge applaudierte. Das Szenenlicht erlosch. Sobald sich das Augenmerk der Zuschauer auf eine der anderen Bühnen gerichtet hatte, eilte ich nebst Gräfin und Amme zur Garderobe. Paulette half mir in ein weißes Kleid mit kleinen Engelsflügeln auf dem Rücken für den bevorstehenden Maskenball der Capulets. Von dort flitzte ich zu den Make-up Artists, ließ mich wie gehabt von Mary im Dauerquasselmodus mit Nichtigkeiten beschallen, während sie meine Haare öffnete und für den nächsten Auftritt in engelsgleiche Wellen legte. Ein bisschen Puder auf Nase und Stirn, etwas Gloss auf die Lippen. Fertig. Ich sputete mich, zurück in den Bühnenbereich zu gelangen.

Amüsiert wartete ich neben der Hauptbühne auf mein Zeichen und genoss derweil in vollen Zügen Dallas’ Performance in Highheels und Mini. Einfach göttlich! Immer wieder. Das Publikum tobte und selbst ich klatschte voller Begeisterung in die Hände.

Atemlos und verschwitzt kam Dallas auf mich zu. »Wie war ich?«

»Großartig!«

»Puh«, keuchte er sichtlich erleichtert und entschwand meinem Sichtfeld.

Totale Stille.

Dann erfüllte Alicias gefühlvolle Soulstimme von einem Podest aus mit dem Song Kissing you den gesamten Saal.

Ich bekam eine Gänsehaut. Eine Wahnsinnsgänsehaut.

»Julia«, sagte der Regieassistent meinen Namen und gab somit das Startsignal für meine Lieblingsszene.

Das Ensemble erstarrte, bewegte sich nicht mehr, wurde vor der Sängerin selbst zum Publikum und lauschte andächtig ihrer berührenden Darbietung.

»But watching stars without you my soul cried …«

Reed und ich betraten aus verschiedenen Richtungen die Bühne. Gott! Er sah umwerfend aus in Kettenhemd und Armrüstung. Auf der Suche nach einem Versteck vor meiner Mutter und Paris traf ich auf ihn, zwischen uns ein großes Salzwasseraquarium mit wunderschönen blauen und bunten Fischen. Das Licht brach sich in leuchtenden Strahlen an den hellen Korallen und erschuf eine verzaubernde Unterwasserwelt. Fasziniert beobachtete ich die kleinen Meeresbewohner und dann begegneten sich zum ersten Mal seit der Generalprobe unsere Blicke. Ganz so, als würden wir uns tatsächlich zum ersten Mal in unserem Leben sehen. Reeds Präsenz war atemberaubend.

Ich schaute ihn offen an, neigte den Kopf ein wenig zur Seite und versank im tiefen Blau seiner Augen, sah nichts außer ihn, seine rebellischen Gesichtszüge und diese unglaublich sinnlich geformten, weichen Lippen, die sich wie warmer Samt auf meinen anfühlten und mich schon bald wieder küssen würden. Unsere Hände legten sich auf das Glas, berührten es, wie wir uns in diesem Moment berühren wollten. Unschuldige reine Liebe durchströmte die Luft, erfüllte das gesamte Theater und trug uns für einen kurzen Augenblick auf ihren süßen Schwingen fort.

Obwohl wir nicht ein Wort miteinander sprachen, war die Szene an Ausdrucksstärke kaum zu überbieten und ich vergaß darüber beinahe zu atmen. Es war wie ein Traum und doch fühlte es sich so unfassbar echt an. Dabei wusste ich, nichts davon war auch nur annähernd real.

Die Amme ergriff meinen Arm und zog mich mit sich fort. Ausgeträumt. Das Ensemble erwachte aus seiner Starre. Ich landete in Paris’ Armen, tanzte mit ihm, tauschte heimliche Küsse mit Romeo, schmolz auf dem Balkon vollends dahin, schwor ihm ewige Liebe. Zu Atem kam ich nach einer kleinen Pause kaum noch, denn die dramatischen Ereignisse überschlugen sich.

Gleich nach der heimlichen Hochzeit starb Mercutio und rief unter seinem letzten Atemzug: »Die Pest auf eure beiden Häuser!« Mit tränenfeuchten Augen stand ich am Bühnenrand und schaute kurz darauf gebannt dem harten Kampf zu, den der hitzköpfige Tybalt mit dem Leben bezahlte. Nach der Hochzeitsnacht und Romeos Verbannung versank ich durch des Paters Trank in todesähnlichen Schlaf und wurde schließlich auf der vierten und bis dahin unbespielten Bühne, umgeben von hunderten brennender Kerzen, auf weichen Kissen in der Gruft der Capulets aufgebahrt.

Ich atmete so flach wie möglich und hielt die Augen entspannt geschlossen, wenngleich ich sie liebend gern geöffnet hätte, um Reed dabei zuzusehen, wie er sich erfüllt von verzweifeltem Schmerz neben mich legte und zu seinem finalen Monolog ansetzte.

Warmes Metall glitt über meinen Finger, als er mir seinen Ring überstreifte, dann fühlte ich seine Lippen auf meiner Hand und lauschte erneut seiner sonoren Stimme.

»Augen ein letztes Mal noch schaut, Arme ein letztes Mal umarmen, und Lippen, ihr, des Atems Tore mit rechtmäßigem Kuss besiegelt …«

Sein Mund legte sich zärtlich auf meinen und er streichelte mein Gesicht. »… den Ewigkeitsvertrag mit dem maßlosen Tod.«

Reed  öffnete die Phiole, setzte zum Trinken an und ich schlug langsam die Augen auf. Doch er sah es nicht. Natürlich nicht. Ahnungslos schluckte er das todbringende Gemisch des Apothekers und ich richtete mich langsam auf. Wie so oft an diesem Abend trafen sich unsere Blicke. Entsetzen und Traurigkeit warfen dunkle Schatten auf seine schönen Augen.

»Romeo?«

Er atmete schnell, konnte sich nicht mehr aufrecht halten, sackte in die seidigen Kissen und starrte mich hilflos an.

Ich nahm das Fläschchen aus seiner kraftlosen Hand. So tief wie menschenmöglich ging ich in mich, wühlte längst vergessene Ängste auf, vermischte sie mit schlimmsten Befürchtungen und ließ zu, dass sie meine Seele eiskalt umklammerten. Trostlosigkeit ergriff Besitz von mir, schnürte mir die Kehle zu.

»Was ist das hier? Gift? Alles getrunken? Gönnst mir nicht einen gütigen Tropfen, der mich zu dir brächte. Ich werde deine Lippen küssen. Vielleicht hängt noch ein wenig Gift daran.« Von Kummer getrieben drückte ich meinen Mund auf seinen und ergab mich dem aufkommenden Tränenmeer. »Dein Mund … ist … warm«, flüsterte ich von hoffnungsloser Verzweiflung erstickt.

Für den Bruchteil von Sekunden herrschte vollkommene Stille. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Meine Stimme wandelte sich in ein trostloses Wispern. »So sterb ich … unter deinem Kusse.«

Eine einzelne Träne löste sich aus Reeds Augenwinkel und sein Körper erschlaffte. Der Blick in seine scheinbar leeren Augen machte das ohnmächtige Gefühl in mir noch größer.

Bitterlich weinend ergriff ich mit zitternden Händen Romeos Pistole und setzte die kühle Mündung an meine Schläfe – ein Moment, in dem gefühlt das gesamte Theater den Atem anhielt.

Tränen rannen unaufhaltsam über mein Gesicht, benetzten das Hemd meines Geliebten. Ich hob den Kopf, schaute flehentlich nach oben und drückte ab. Ein lauter Knall. Vereinzelte Aufschreie. Das Publikum zuckte entsetzt zusammen, während ich mit schwindendem Blick und einem Rinnsal von Kunstblut im Gesicht zur Seite fiel. Auf dem Körper meines Romeos, dessen beschleunigter Herzschlag mir innerlich ein glückliches Lächeln entlockte, kam ich zur Ruhe.

Der Zuschauerraum blieb still.

Des Fürsten Schritte hallten über das Parkett. »So bringt denn euer Hass solchen Verdruss, dass Liebe sogar eure Freuden töten muss. Auch ich, der ich die Augen schloss vor eurem Streit, verlor zwei Vettern. Alle sind bestraft. Alle. Sind. Bestraft.«

Obwohl ich die Augen weiterhin geschlossen halten musste, wusste ich genau, was um uns herum geschah. Gedämpftes Licht erhellte nach und nach die anderen drei Bühnen, auf denen sich mit schuldbewussten Mienen und gesenkten Häuptern das Ensemble einfand.

Reed drückte sanft meine Hand und dann ertönte die Stimme aus dem Off.

»Düsteren Frieden bringt uns dieser Morgen. Die Sonne birgt vor Kummer ihr Gesicht. Wir müssen uns um diese schlimmen Dinge sorgen. Einige erhalten Strafen, andere nicht. Ein größeres Elend gab es nirgendwo als das von Julia und ihrem Romeo.«

 


Ende der Leseprobe

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