Auf ´ne Cola mit dir ...



Auf ´ne Cola mit Dir zu gehen, war die beste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe.

Es hat lange gedauert, bis ich mich getraut habe, Dich anzusprechen. Lane – das Mädchen mit den himmelblauen Augen, den niedlichen Sommersprossen um die Nase herum und dem strohblonden Haar, dessen widerspenstige Locken nicht zu bändigen waren – genauso wenig wie Deine Lebensfreude. 

Jahr um Jahr nahm ich den längeren Schulweg, flussaufwärts an der Farm Deiner Eltern vorbei, nur um Deine Silhouette verstohlen aus der Ferne sehen zu können.

Auch ohne mich umzudrehen wusste ich stets, wann Du in meiner Nähe warst, denn der beschleunigte Schlag meines Herzens verriet mir sofort Deine Anwesenheit. Dennoch machte ich in den Pausen auf cool. Nur keine Gefühle zeigen und schon gar nicht, wenn die anderen harten Jungs dabei waren. Mädchen waren doof – ja, das waren sie – bis auf eines und das warst Du. Aber das Gesicht unter den akkurat zurück gegelten Haaren vor allen anderen zu verlieren, dazu war ich mit fünfzehn noch nicht bereit.

Knapp zwei Jahre später war ich schon eher ein Mann. Dann und wann trödelte ich auf dem Schulweg, damit Du mich einholen konntest. Dein zaghaftes ´Hallo` im Vorbeigehen machte selbst meine miesesten Tage perfekt.

Am vorletzten Schultag fasste ich schließlich all meinen Mut zusammen und sprach Dich an. Mittlerweile war mir egal, was die Jungs davon hielten, denn so cool, wie sie immer taten, waren sie in Wirklichkeit nicht.

´Würdest Du auf ´ne Cola mit mir gehen?`

Ein nichtiger Satz für die Menschheit, doch ein verdammt großer für mich. Nur ein bejahendes Nicken, dann das Kichern einiger Mädchen, mehr nahm ich nicht wahr und es war auch nicht wichtig, denn Dein atemberaubendes Lächeln sprach für sich und es war viel mehr, als nur ein einfaches Ja.

Nach Schulschluss, als wir nebeneinander über die staubige Straße zur Milchbar liefen, überwanden wir die letzte Distanz zwischen uns. Es war glühendheiß an diesem Tag, aber das störte uns nicht. Als ob es schon immer so gewesen wäre, hockten wir im Schatten des Hauses auf den hölzernen Stufen vor dem Geschäft und tranken durch Strohhalme eiskalte Cola aus beschlagenen Glasflaschen, an denen winzige Wassertropfen hinunterliefen.

Der Rückweg führte uns an leuchtend gelben Maisfeldern vorbei. Wir rannten hindurch, spielten verstecken und später, verdeckt von mannshohen Pflanzen, berührten sich eher zufällig unsere Lippen. Einmal geküsst, wurden wir süchtig danach und die Zufälle häuften sich, bis wir fast nichts anderes mehr taten, wenn wir ungestört zusammen waren.

Eine Woche später fing das Flüstern des Flusses an. Ich verstand zunächst nicht, wieso ich bei Sonnenuntergang am verwitterten Steg in der Nähe meines Elternhauses warten sollte. Doch dann, als sich das Abendrot im Wasser brach und von flussaufwärts die Strömung eine verkorkte Flasche zu mir trug, wurde mir klar, wieso ich dort warten sollte.

Deine erste Botschaft an mich war kurz und süß: ´Ich glaube, ich liebe Dich…`

Von diesem Tag an spannte sich ein Fischernetz quer über den Fluss, befestigt zwischen dem verwitterten Steg und dem Stamm eines morschen Baumes, damit mir keine Nachricht mehr von Dir entging. Auf diese Weise schriebst Du mir alles, was Du Dich nicht zu sagen trautest. Meine Antworten kamen in Briefform zu Dir und so wie sich die Flaschen unter dem Steg mehrten, mehrten sich auch die Briefe im alten Kornspeicher, versteckt unter einigen ganz besonderen Heuballen.

Es war die beste Zeit unseres Lebens, doch dann kam der Krieg. Ein zerknittertes Foto von Dir war das Einzige, was mich während der Grausamkeiten aufrecht hielt – und Dein Versprechen, mich zu heiraten, sobald die Schlacht vorüber war.

Nach gut drei Jahren kehrte ich endlich wieder zurück, doch Du warst nicht mehr da – fast alle waren weg. Die Farmen unserer Eltern waren dem Erdboden gleich. Drei Kreuze mit drei Namen darauf – Laura, Michael und Melissa Gilmour -  waren alles, was von meiner Familie übriggeblieben war.

Ich war am Ende und befürchtete auch Dich für immer verloren zu haben.

Voller Panik rannte ich zum alten Steg, suchte verzweifelt nach einem Lebenszeichen von Dir und fand es, gefangen im löchrigen Netz zwischen den Ufern, doch hattest Du in der Eile nicht bedacht, den Ort zu erwähnen, an dem Du Dich aufhieltst.

Ich reiste durchs ganze Land auf der Suche nach Dir, bis ich irgendwann glaubte, Dich im warmen Nachmittagslicht gefunden zu haben. Himmelblaue Augen, strohblonde Locken und Sommersprossen allein reichten jedoch nicht aus, um Dich zu ersetzen. Es ging einfach nicht. Du warst überall - bei mir, auf mir, in mir – so nah und doch bliebst Du unerreichbar für mich.

Ein weiteres Jahr später kehrte ich in unsere alte Heimat zurück. Das Land gehörte immer noch mir und so baute ich wie viele andere wieder auf, was vom Krieg zerstört worden war.

Eines Morgens lief mir wie aus dem Nichts ´Hau ab!` über den Weg – der zottelige Welpe, der sein Leben lang das Gegenteil von dem machte, was er eigentlich sollte. Er wurde zu meinem ungewollten Schatten und ehe ich mich versah, waren wir einander treu ergeben.

Jeden Abend nach getaner Arbeit, kurz bevor die Sonne unterging, saß ich in abgewetzten Jeans und zerschlissenem Hemd mit ´Hau ab!` am verwitterten Steg. Das Netz war gespannt und wartete genau wie ich auf Nachricht von Dir. Eine schlichte Gitarre vertrieb mir die Zeit. Die Melodie war immer dieselbe – unser Lied – und nur Du weißt, welches es war.

Tage, Wochen und Monate vergingen nur zäh. Auf einen harten Winter folgte ein milder Frühling und als spät im darauffolgenden Sommer der Mais goldgelb auf den umliegenden Feldern stand, wusste ich, Du warst wieder da. Der beschleunigte Schlag meines Herzens verriet Deine Anwesenheit, noch bevor die verkorkte Flasche im Abendrot von der Strömung zu mir getragen wurde.

 

Jetzt sitze ich hier, mit Arthrose und Gicht in den Knochen, in abgewetzten Jeans und verschlissenem Hemd, doch meine Liebe zu Dir ist bis heute ungebrochen.

Unsere Kinder sind groß, genießen ihr eigenes Leben. Melissa hat mit Deinen widerspenstigen Locken zu kämpfen, Laura verzaubert die Menschen mit Deinen himmelblauen Augen und Michael hat zum Leidwesen seiner Frau meinen Humor geerbt.

Um die Augen unserer Enkelkinder zeichnen sich langsam aber sicher die ersten Mimikfältchen und unser vierter Urenkel wird nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.

Morgen sind auf den Tag genau sechzig Jahre seit unserer schlichten Trauung an der Biegung des Flusses vergangen. Die Zeit ist nicht greifbar, das war sie noch nie. Gefühlt war es erst gestern, als wir uns vor dem dickbäuchigen Friedensrichter das Ja-Wort gaben. Du im hellblauen Sommerkleid, barfuß, mit Kornblumen in der Hand. Ich in einem geborgten Anzug Deines Onkels, dessen Hose mir gerade bis zu den Knöcheln reichte. Der Anfang war schwer, wir hatten nicht viel, doch all die Jahre über – in guten, wie in schlechten Zeiten – hatten wir uns.

23.724 Tage hat es gedauert, bis wir die Plätze getauscht haben. Ich hocke flussaufwärts am Ufer und schreibe Dir diesen Brief, während Du nur ein paar hundert Meter entfernt am verwitterten Steg sitzt, das Netz beobachtest und auf eine Nachricht von mir wartest.

Im Taumel der Zeit verändert sich vieles. Manches zum Guten, manches zum Schlechten, aber glücklicherweise ändern sich einige Dinge nie. Auch wenn über die Jahre hinweg Dein Haar seine strohblonde Farbe verloren hat, sind seine widerspenstigen Locken bis heute unbezähmbar geblieben – genau, wie Deine Lebensfreude.

So, wie es angefangen hat, soll es auch enden – zusammen – denn die beste Entscheidung, die ich jemals in meinem Leben getroffen habe, war: Auf ´ne Cola mit Dir zu gehen.

 

William Gilmour legte den Stift beiseite, rollte das Briefpapier zusammen und steckte es in die Flasche. Nachdem er den Korken fest in den gläsernen Hals gedrückt hatte, blinzelte er lächelnd in die untergehende Sonne und ließ die Zeilen an seine Frau in den flüsternden Fluss gleiten. Das lange Sitzen hatte seine Glieder steif werden lassen, dennoch erhob er sich für einen Mann über achtzig relativ leichtfüßig. Sein Blick schweifte über die goldgelben Maisfelder hinweg, zwischen deren mannshoher Bewachsung er zum ersten Mal die Liebe seines Lebens geküsst hatte.

Ihm war klar, dass er im Haus keine Ruhe finden würde, weil seine Kinder, Enkel, Urenkel und Nachbarn damit beschäftigt waren, innen wie außen alles für den großen Tag herzurichten.

Unbemerkt stahl er sich an seiner Familie und den Freunden vorbei, schnappte sich zwei eisgekühlte Colas, stibitzte den Kindern ein paar Strohhalme und schlenderte von der Hintertür aus langsam über den brachliegenden Acker, bis er beim alten Kornspeicher angekommen war – das einzige Gebäude in der Gegend, das den Krieg überlebt hatte.

William wusste, dass Lana ihn dort finden würde. Es gab keinen anderen Ort, an dem er lieber die Nacht mit seiner Frau verbracht hätte. Für wenige Stunden wollte er auf den Heuballen, unter denen all seine Briefe versteckt waren, nicht daran denken, wie alt sie geworden waren. Noch einmal – und wenn es das letzte Mal sein sollte – wollte er wieder zwanzig, jung, wild und leidenschaftlich sein. Das war alles, was er sich noch vom Leben wünschte. Nicht mehr und nicht weniger.


 


Alle Rechte vorbehalten durch (c) Anja Tatlisu

Das Kopieren, Vervielfältigen und Verbreiten dieses Textes ohne vorherige Genehmigung der Autorin gilt als Urheberrechtsverletzung und wird entsprechend geahndet.

Urheberrechtsverletzung ist kein Kavaliersdelikt!