Schokolade zum Dinner



Das Außenthermometer am Bahnhof von Fairbanks zeigte Minus 18 Grad an, als Cassidy Johnson mit ihrem Gepäck aus dem Taxi stieg. Der gefrorene Schnee knirschte unter den Fellboots, als ihre Füße durch die harte Oberfläche stießen und bis weit über die Fesseln in Frau Holles Wintergeschenk versanken. Trotz der frostigen Luft musste sie kurz lächeln. Das Geräusch erinnerte sie seltsamerweise an die Crème brûlée ihrer Mutter. Ähnlich klang es, wenn der Dessertlöffel den karamellisierten Zucker durchbrach. Das köstliche Essen war aber auch schon alles, worauf sie sich an den Feiertagen freute. Allein der Gedanke, dass sie am ersten Weihnachtstag völlig ungezwungen Dr. Gabriel Rutherford, den sicher stinklangweiligen, fliegentragenden Sohn von guten Bekannten ihrer Eltern kennenlernen sollte, ließ sie innerlich aufstöhnen. Was war falsch daran, mit Ende zwanzig noch Single zu sein? Eine Frage, die sie sich selbst immer wieder stellte. Cassidy war nicht auf der Suche, nach nichts und niemanden. Sie mochte ihre Art zu leben, und wenn Mr. Right irgendwann an ihr vorbeilaufen würde, wäre sie spontan genug, ihm ein Bein zu stellen. Sogar ihre Freunde und Arbeitskollegen benahmen sich, als hätte sie eine ansteckende Krankheit, die dringend Medizin in Form des perfekten Mannes bedurfte.

 

Der verhältnismäßig warme Bahnhof wirkte fast schon gespenstisch an diesem Abend. Außer der dicklichen Frau in dem Glaskasten mit der Aufschrift „Auskunft/Tickets“ war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Cassidy durchquerte die Halle mit dem beeindruckend hohen Kuppeldach und steuerte das Gleis Nummer fünf an. Auf die Sekunde genau erreichte sie ihr überfülltes Ziel. Kein Wunder, dass niemand die Vorhalle wie ausgestorben gewesen war. Der letzte Zug für die nächsten drei Tage hatte die Reisenden frühzeitig auf den Bahnsteig getrieben.

Das Quietschen der Bremsen verstärkte die kältebedingte Gänsehaut der jungen Frau. Trotz der wärmenden Kleidung hatten sich die Minusgrade während des kurzen Weges langsam bis zu ihrer Haut durchgefressen. Nachdem die Waggons gestoppt hatten, wartete Cassidy, bis sich die Türen öffneten, verzichtete auf das Gedränge zwischen den anderen Passagieren und stieg als Letzte ein. Die angenehme Wärme im Inneren des Zuges legte sich wie Balsam auf ihr unterkühltes Gesicht, als sie den langen Gang betrat und durch die Scheiben des ersten Abteils blinzelte. Alle Sitze waren belegt. Die junge Frau zwängte sich mit ihrer prallgefüllten Tasche weiter und erhaschte einen Blick ins nächste Abteil, aber auch dieses war vollständig besetzt. Auf diese Weise arbeitete sie sich bis zum Ende des Waggons vor und genau dort wurde sie fündig. Nur ein braunhaariger Mann mit dickem Norwegerpulli, Jeans und Boots saß auf einem der vier blaugepolsterten Samtsitze, die sehr an den alten Ohrensessel ihrer Großmutter erinnerten. Cassidy öffnete die Schiebetür, während sich der Zug langsam in Bewegung setzte.

„Entschuldigung ist hier noch frei?“

Der Mann, der den rechten Fußknöchel locker auf dem Knie seines linken Beines abgestützt hatte, nahm den Blick nicht aus seinem Buch. Dennoch murmelte er eine knappe Antwort.

„Sieht ganz danach aus.“

Seine Stimme war angenehm, obwohl er wenig Anstand zu besitzen schien. Die junge Frau seufzte leise und schob sich in das kleine Abteil. Sie wählte die Seite gegenüber dem Fremden, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, die zum Bersten gefüllte Reisetasche in das Gepäcknetz oberhalb ihres ausgewählten Sitzplatzes zu verstauen.

„Soll ich Ihnen helfen?“, brummte es hinter ihrem Rücken.

„Nein, müssen Sie nicht.“

„Gut.“

Cassidy reckte und streckte sich unter größter Anstrengung, bis sie es endlich geschafft hatte.

„Puuh.“

Mit einem erleichterten Stöhnen ließ sie die Arme sinken und zog die Wollmütze aus. Ihr blondgelockter Pagenkopf war zerzaust, einige Haare standen elektrisiert zu Berge, als hätte jemand einen Luftballon daran gerieben. Ihrer dicken Handschuhe entledigte sie sich als Nächstes, bevor sie den Daunenmantel ebenfalls auszog und in den bauchigen Sitz sank.

Gemächlichen Tempos schob sich die typisch gelbblaue Lok der Alaska Railroad, samt ihrer Anhänger, ruckelnd über die vereisten Schienen durch das nächtliche Fairbanks. Vier Stunden Zugfahrt lagen vor Cassidy. Sie seufzte kaum hörbar, lehnte den Kopf gegen die Scheibe und sah hinaus in die Winterlandschaft, die sich bläulich-weiß schimmernd von der Dunkelheit absetzte.

„Weihnachten im Schoß der Familie, was?“

Die junge Frau erschrak, als sie unerwartet die Stimme ihres bis dahin wenig freundlichen Gegenübers vernahm. Er hatte es tatsächlich geschafft, seinen dunklen Schopf zu erheben und sie anzusehen. Cassidy nickte, während sie verstohlen in seine braunen Augen mit dem leichten Grünstich blickte. Die Stoppeln seines Zweitagebartes ließen ihn ein bisschen verwegen wirken und betonten seine markanten Gesichtszüge, die dennoch eine gewisse Weichheit aufwiesen.

„Wo geht´s denn hin?“, fragte er als Nächstes.

Die junge Frau räusperte sich, um den trockenen Film, den die Heizungsluft auf ihre Stimmbänder gelegt hatte, zu lösen.

„Sind Sie neugierig?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

Erst war er so unhöflich gewesen, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich beinahe mit ihrer eigenen Reisetasche erschlagen hätte und nun stellte er ihr Fragen, deren Antworten ihn nichts angingen. Sie wusste nicht einmal seinen Namen, geschweige denn, welche Absichten er hegte.

Der Fremde schmunzelte.

„Interessiert trifft es wohl eher.“

Noch während er sprach, senkte sich sein Kopf und seine Augen huschten über die kleingeschriebenen Seiten des recht dicken Wälzers auf seinen Beinen. Cassidy rutschte ein wenig tiefer, um einen Blick auf das Buchcover zu erhaschen, doch die geheime Mission scheiterte. Mit  einem ziehenden Muskel im Nacken nahm sie wieder ihre gerade Sitzposition ein. Unauffällig in der Handtasche wühlen war nicht drin, da diese auf dem freien Platz neben ihr stand. Blieben nur die Handschuhe auf ihrem Schoß. Die junge Frau reckte ihre Arme nach oben, gähnte herzhaft, streckte ihren Rücken durch und überschlug die Beine. Dabei gerieten die Fäustlinge ins Rutschen und fielen zu Boden.

„Oooh …“

Cassidys blaue Augen weiteten sich passend zu dem Missgeschick, das keines war, ehe sie sich nach vorne beugte, um die Handschuhe wieder aufzuheben. Abermals verdrehte sie ihren Nacken, doch das allein half nichts und sie musste sich noch ein Stück weiter vorarbeiten. Erst, als ihr Kopf unterhalb der Lücke seines angewinkelten Beines angelangt war, konnte sie den Buchrücken erkennen.

Chris …

Der junge Mann zog den Einband weg und grinste sie frech von oben durch seine Schenkel an.

„Sind Sie neugierig?“

Cassidys Wangen kribbelten. Ihre Ohren wurden glühend heiß, als sie ungeschickt zurückkrabbelte und sich wieder auf ihren Platz setzte.

„M-meine Handschuhe …“

„Sicher.“

Ihr Gegenüber schüttelte amüsiert den Kopf und unterdrückte ein Glucksen.

„Sie hätten mich fragen können.“

„W-wonach?“

„Nach dem Buchtitel“, erklärte er trocken.

„Ich sagte doch, meine …“

„Handschuhe, ja klar.“ Seine Mundwinkel zuckten. „The Night Stalker von Chris Carter.“

Die junge Frau vergrub ihr Kinn in ihrem Rollkragenpullover.

„Muss Ihnen nicht peinlich sein.“

„Wer sagt denn, dass …“

„Ihr Gesicht.“

Cassidy schnaubte, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster.

Großartig, da sitze ich an Heiligabend mit solch einem Schnösel in einem Abteil. Wahrscheinlich hat er selbst Stalkerneigungen und versucht, sie mit Hilfe von Chris Carter zu perfektionieren.

Gedankenverloren tippte sie mit ihren manikürten Fingernägeln auf dem Tischchen unterhalb des Fensters herum und drückte sich die Nase an der eiskalten Scheibe platt, die mehr und mehr durch ihren Atem beschlug.

„Sie sind eine ganz schöne Nervensäge.“

Der jungen Frau stockte der Atem.

„Und Sie sind ganz schön unsympathisch.“

Ihr Gegenüber runzelte die Stirn.

„Nur in Gegenwart von Nervensägen.“

Cassidy schnappte nach Luft. Sie hätte dem frechen Kerl liebend gern ihre Meinung gegeigt, doch seine Unverfrorenheit hatte sie mundtot gemacht. Schmollend wühlte sie in dem rehbraunen Lederbeutel neben sich herum, bis sie ihr Lieblingsbuch in der Hand hielt. Fast schon trotzig vergrub sie die Nase in den abgegriffenen Seiten, um den Fiesling mit dem unverschämten Mundwerk gänzlich ausblenden zu können.

 

Bis zum Bahnhof in Nenana herrschte eisiges Schweigen zwischen den beiden Reisenden. Als der Zug stoppte, hörte man die Türen der anderen Abteile auf- und zugehen. Stimmen wurden laut, Gelächter und leise Flüche erklangen, während sich die Menschen durch den Gang nach draußen schoben. Cassidys unliebsamer Mitreisender stand auf, zog seine Jacke an und verließ wortlos das Abteil. Erleichtert atmete die junge Frau auf und freute sich, dass sie den Rest des Weges den winzigen Raum für sich ganz allein hatte, bis sie sah, dass sein Rucksack noch auf dem Boden stand.

Ob er ihn vergessen hat?

Normalerweise, wäre er einer von der netten Sorte gewesen, wäre sie ihm nachgeeilt und hätte ihn zurückgerufen, aber so? Ein breites Grinsen bildete sich in ihrem Gesicht. Manchmal konnten Gemeinheiten schlichtweg befreiend sein. Glücklich mit sich selbst und der Fügung, den Rest der Strecke ohne ihn zurücklegen zu können, las sie weiter.

Der Zwischenstopp in Nenana dauerte etwa eine Viertelstunde, dann erklang das Signal zur Abfahrt und die Waggons setzten sich ruckelnd in Bewegung. Noch während der Zug anfuhr, öffnete sich die Tür zu ihrem Abteil. Als Cassidy kurz aufsah, erstarb der leichte Anflug von Euphorie augenblicklich – Mr. Unsympathisch trat ein und fläzte sich wie gehabt auf den Platz, den sie gedanklich mit Heftzwecken spickte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich ein Becher mit dampfendem Inhalt langsam über die kleine Tischplatte unterhalb des Fensters in ihre Richtung schob.

„Trinken Sie, solange er noch warm ist.“

Cassidy runzelte die Stirn und ließ das Buch sinken.

„Ich hoffe, Sie mögen heißen Kakao“, fügte der Dunkelhaarige hinzu.

„Muss ich mir Sorgen machen?“, brummte die junge Frau. „Leiden Sie an multipler Persönlichkeitsstörung?“

Ihr Gegenüber mit den schelmisch funkelnden Augen verschluckte sich und lachte.

„Nicht, dass ich wüsste. Aber sobald die Feiertage vorüber sind, werde ich sicherheitshalber einen Arzt konsultieren.“

„Das beruhigt mich.“

Der schokoladig-süße Geruch stieg Cassidy verführerisch in die Nase und stimmte sie sogleich milde. Kakao war so ziemlich das Beste an kalten Wintertagen. Zögernd streckte sie die Hand aus und nahm den Becher.

„Danke“, murmelte sie, bevor sie in winzigen Schlucken daraus trank. Der köstliche Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus und entlockte ihr ein seliges Lächeln.

„Gern geschehen.“

„Fehlt nur noch ein prasselndes Kaminfeuer und dicke Flauschsocken, dann wäre es fast gemütlich.“

„Prasselnde Kaminfeuer und Flauschsocken waren leider aus, sonst hätte ich selbstverständlich beides mitgebracht, um Ihnen den Rest der Fahrt so angenehm wie möglich zu gestalten.“

„Jetzt tragen Sie aber ganz schön dick auf, Mr. Nobody.“

Der Kopf des jungen Mannes neigte sich zur Seite, er schien belustigt zu sein.

„Sie haben da was …“

„WO?”

Cassidy tastete an sich herum.

„An der Nase.“

Ihre Hand schnellte zur Mitte ihres Gesichtes. Und tatsächlich, da war etwas – feucht und irgendwie klebrig.

Hoffentlich kein Schnupf … hoffentlich kein Schnupf …, dachte sie panisch.

Der Fremde zückte ein Taschentuch aus seinem Rucksack und gab es ihr.

„Keine Panik ist nur Kakao.“

Verlegen wischte sie mit dem Tuch ihre Nasenspitze sauber.

„Danke“, murmelte sie leise.

Ihre Ohren wurden kochendheiß, während sie versuchte, weiterzulesen, doch es gelang ihr nicht so recht, sich auf den Inhalt ihrer Lektüre zu konzentrieren. Ein leises Rascheln ließ sie sofort hellhörig werden und lenkte sie noch mehr ab.

„Bridget?“ Sie blickte zu dem Namenlosen auf, er besah schmunzelnd das Buch in ihren Händen, während er eine geöffnete Tafel auf das Tischchen  am Fenster legte. „Schokolade zum Dinner?“

Die junge Frau kicherte und schob den Roman zur Seite.

„Danke, sehr gerne.”

Sie nahm ein Stück der süßen Versuchung, steckte es in den Mund und lutschte fast schon hingebungsvoll daran herum, bis es sich komplett aufgelöst hatte. Schokolade aß man schließlich nicht, man genoss sie, mit Leib und Seele.

„Mr. Nobody hat übrigens einen Namen“, sagte ihr Gegenüber, während er sich in seinem Sitz zurücklehnte.

„Der da wäre?“

„Noah.“

„Und ich heiße nicht Bridget.“

Er lachte leise.

„Nicht?“

„Nein.“

„Lassen Sie mich raten.“

„Sie? Wir haben Schokolade und Kakao miteinander geteilt. Eine ziemlich intime Sache, demnach könnten wir zum Du übergehen.“

„Stimmt.“ Er lächelte abermals. „Intimer kann man bei einer ersten Begegnung wohl kaum werden.“

Die junge Frau pustete eine widerspenstige Locke aus ihrem Gesicht und sah ihn an.

„Ich höre“, sagte sie leise.

„Meg.“

„Wie Meg Ryan?“

„Genau.“

Cassidy schüttelte den Kopf, obwohl ihre Haarfarbe und die Frisur sehr stark an die Schauspielerin erinnerten.

„Fehlanzeige.“

„Hum … Susan?“

„Total daneben.“

Zeitgleich beugten sie sich zum Tisch, um ein weiteres Stück Schokolade zu nehmen und stießen beinahe mit ihren Köpfen zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich erschrocken an, kicherten dann und fielen zurück in ihre Sitze. Glückseliges Seufzen erfüllte das Abteil, während die Schokolade auf ihren Zungen zerging.

„Es gibt fast nichts Besseres“, flüsterte der junge Mann.

„Hmmm …“

Cassidy nickte zur Bestätigung. Genießen war angesagt, sprechen war in diesem Moment nicht drin.

„Amanda?“, fragte er mit dem nächsten Atemzug.

„Nein.“

„Ist es ein seltener Name?“

„Geht so.“

„Gibst du mir einen Tipp?“

„Wenn ich noch mehr Schokolade kriege.“

Noah öffnete seinen Rucksack und gewährte der jungen Frau einen kurzen Einblick. Mindestens ein Dutzend Tafeln von Hershey´s lagen direkt oben auf.

„Reicht das?“, fragte er mit einem Augenzwinkern.

„Ich denke schon“, schmunzelte sie. „Also gut … mein Vater steht total auf Western.“

„Deine Eltern haben dir aber keinen Männernamen verpasst, oder?“

„Also John ist es nicht, falls du das meinst.“

Noah gluckste.

„Jane?”

„Nope!“

„Wyatt wird es wohl auch nicht sein.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Eher nicht.“

„Hast du noch einen Tipp für mich?“

„Was zahlst du?“

Er reichte ihr ein weiteres Stück Schokolade.

„Hmm … es ist der Nachname … eines Gesetzlosen, der mit seinem Kumpel nach Argentinien abgehauen ist.“

Noah ging augenscheinlich ein Licht auf, er grinste wissend.

„Und wo genau fährst du hin, Cassidy?”

Die junge Frau war beeindruckt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell herausfand, wie sie hieß.

„Nach Healy, zu meinen Eltern“, seufzte sie.

„Klingt nicht gerade begeistert.“

„Doch, eigentlich schon. Ich freue mich auf meine Familie und auf das Essen meiner Mutter …“

„Aber?“

„… nicht auf Dr. Gabriel Rutherfooooord.“ Sie zog das O genauso lang, wie ihre Mutter es immer tat, wenn sie von den Rutherfords sprach. „Ich krieg juckenden Ausschlag, wenn ich nur daran denke.“

Noah stutzte und sah sie erstaunt an.

„So schlimm?“

„Schlimmer als schlimm.“

„Klingt fast nach Zwangsehe.“

„Nein, so ist es nicht, aber meine Eltern haben eine gewisse Erwartungshaltung. Sie wünschen sich einen Stall voll Enkelkinder, hören im Geiste meine biologische Uhr Alarm schlagen und haben Angst, dass ich alt und schrumpelig werde, bevor ich mich binde.“

„Und deswegen muss der Doktor her?“

„Ja.“ Cassidy atmete laut hörbar aus. „Er ist der übriggebliebene Sohn von Freunden meiner Eltern, den bisher keine haben wollte. Wahrscheinlich ein unausstehlicher Fliegen tragender Philosophiefutzi.“

Noah lachte rau.

„Falls deine Mutter dir ein Kleid aufs Bett legt, das aussieht wie eine geblümte Gardine und dieser Dr. Rutherford in einem selbstgestrickten Renntierpullover auftaucht, solltest du künftig die Wahl deiner Bücher besser überdenken.“

Sein Blick huschte zu dem Roman neben der jungen Frau, der augenscheinlich im wahren Leben eine abgewandelte Form von Bridget Jones bevorstand.

„Haha … das ist nicht witzig …“

„Doch, das ist es.“ Obwohl sie im Begriff war, einen Schmollmund zu ziehen, stimmte sie in Noahs ansteckendes Gelächter mit ein.

„Niemand kann dich dazu zwingen ihn zu mögen“, sagte er ruhig. „Aber wer weiß? Vielleicht ist er gar nicht so übel, wie du denkst und ihr versteht euch blendend.“

„Unwahrscheinlich“, brummte Cassidy.

Ein heftiger Ruck ging durch den Waggon und katapultierte die beiden Reisenden von ihren Sitzen. Ihre Köpfe prallten hart gegeneinander. Das extrem laute Quietschen der Bremsen, die versuchten, den Koloss zum Stillstand zu bringen, bekamen sie genauso wenig mit wie das Kreischen der anderen Passagiere. Ohne Bewusstsein lagen sie auf dem Boden des kleinen Abteils, während draußen durch die Reibung des Metalls rote

Funken von den Rädern in die Winternacht stoben. Die Lok kam ächzend zum Stehen. Aufgebracht kletterte der Zugführer hinaus, um sich die Bescherung anzusehen. Ein wuchtiger Baum war von der Schneelast entwurzelt worden und hatte die Gleise blockiert. Der Mann mit den grauen Schläfen hatte das Hindernis in der Dunkelheit zu spät erkannt und war mit donnerndem Getöse in den massiven Stamm gefahren. Die Überreste der Tanne lagen weit verstreut im Umkreis mehrerer Meter verteilt, doch der Großteil hatte sich unter den vorderen Waggons verkeilt und machte eine Weiterfahrt absolut unmöglich.

Dem Lokführer selbst war nichts geschehen. Außer einer Beule auf der Stirn, die er sich beim Aufprall zugezogen hatte, war er weitestgehend unversehrt geblieben. Den Schreck noch in den Knochen arbeitete er sich über die abgebrochenen Äste hinweg, die mitunter mannshoch den Weg versperrten, zu den Waggons vor. Mit Erleichterung stellte er fast, dass seine Kollegen ebenfalls wohlauf zu sein schienen und sich bereits um die geschockten, teilweise leicht verletzten Passagiere kümmerten. Mit steifgefrorenen Gliedern trat er den beschwerlichen Rückweg durch den Schnee und über die Bruchstücke der Zeder in sein Führerhaus an, um von dort aus Hilfe herbeizufunken.

 

Noah fand als Erstes sein Bewusstsein zurück. Blinzelnd schlug er die Augen auf, sein Schädel dröhnte zwar, doch war es erträglich. Verschwommen sah er, dass auf dem schmalen Gang hektisches Treiben herrschte. Einige Sekunden später wurde er sich der Last auf seinem Brustkorb bewusst. Cassidy lag halb auf ihm. Ihr Gesicht war leichenblass. Ein Riss zog sich durch ihre Augenbraue, aus welchem unaufhörlich Blut floss, das von ihrer Nasenspitze tropfte und sich auf seinem Strickpullover bereits zu einem relativ großen Fleck ausgedehnt hatte. Erschrocken richtete er sich auf, strich der bewusstlosen Frau liebevoll über die blutverschmierte Wange und flüsterte ihren Namen.

„Cassidy? Hörst du mich?”

Keine Reaktion.

„Hey …“

Noahs Stimme wurde lauter, während er an ihren Schultern rüttelte. Einige endlos lange Schrecksekunden später schlug sie endlich die Augen auf.

„W-Was ist … passiert?“, nuschelte sie benommen.

„Keine Ahnung“, gab der junge Mann unter ihr erleichtert zurück. „Kannst du aufstehen?“

Mühsam hob sie ihren Oberkörper von seiner Brust und rutschte auf ihrem Po über den Boden, bis sie die Wand unterhalb des kleinen Tisches in ihrem Rücken spürte. Noah rappelte sich ebenfalls auf und zog seinen Rucksack unter den Sitzen hervor.

„Du blutest“, sagte er ruhig, während er in seinem Handgepäck herumkramte. Im selben Moment wurde die Schiebetür aufgerissen und ein hektischer Schaffner streckte den Kopf durch den Spalt.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“

„Ja, geht schon“, gab Noah beschäftigt zurück.

„Wenn Sie etwas brauchen …“

„… rufen wir um Hilfe. Schon klar …“, beendete der junge Mann den Satz des Bahnangestellten. „Helfen Sie den anderen, uns geht es so weit gut.“

Die Schiebetür knallte zu, Cassidy zuckte zusammen.

„Das wird jetzt ein bisschen wehtun“, flüsterte Noah, der augenscheinlich in Händen hielt, wonach er gesucht hatte. Aus einer Verbandstasche nahm er eine sterile Kompresse, öffnete die verschweißte Tüte und presste sie auf die Wunde an Cassidys Augenbraue.

„Aaah“, stöhnte die junge Frau auf.

„Fest drücken“, murmelte er abwesend, ergriff ihre Hand und legte ihre Finger statt seiner auf die Kompresse. Als Nächstes zückte er ein Fläschchen Jod, ein überdimensionales Ohrenstäbchen, welches sich als Tupfer herausstellte, und einige Steristrips.

„Brennt das?“

Der blonde Lockenkopf versuchte dem Tupfer, der mit Jod getränkt war, auszuweichen.

„Ja, wie Feuer“, grinste Noah. „Aber es hilft und es wäre doch wirklich schade, wenn du Dr. Gabriel Rutherford mit einem zugeschwollenen Auge vorgestellt würdest.“

„Das war fies.“

Zögernd ließ sie die Hand mit der Kompresse sinken.

„Ja, war es und das wird noch fieser.“

Ohne mit der Wimper zu zucken drückte er das Desinfektionsmittel auf ihre Wunde. Cassidy entwich zischend der Atem.

„Scheiße tut das weh …“, stöhnte sie.

„Fäkalsprache? Ziemlich unweihnachtlich, wenn du mich fragst.“

„Ich frag dich aber nicht“, brummte seine Patientin.

Als er endlich das brennende Ding von ihrer Braue nahm, atmete sie erleichtert aus.

„Die Blutung ist gestillt“, erwähnte Noah beiläufig, ließ den Tupfer fallen und öffnete das nächste Tütchen mit den Steristrips. Mit fünf der dünnen Streifen klammerte er den Cut über Cassidys Auge zusammen. „Jetzt dürfte eigentlich nichts mehr schiefgehen.“

„Danke.“

„Keine Ursache.“

„Und was ist mit dir?“

„Mit mir?“ Der junge Mann richtete sich auf und besah sein Gesicht in der Fensterscheibe. Auch er hat eine kleine Platzwunde über dem rechten Auge, doch blutete sie nicht und war nicht annähernd so groß wie die von Cassidy. „Das ist halb so wild“, gab er zurück und half seiner Patientin aufzustehen.

Langsam sackte sie auf ihren Sitzplatz, lehnte sich in den Polstern zurück und sah Noah dabei zu, wie er seine Sachen verstaute.

„Bist du Arzt?“

„Wieso?“

„Weil du den ganzen Kram mit dir herumschleppst.“

„Ja, Veterinärmediziner um genau zu sein.“

„Behandelst du deine tierischen Patienten genauso grob?“

„Die sind bei weitem nicht so zimperlich wie blauäugige Lockenköpfe, denen man in Zügen begegnet.“ Sein Augenzwinkern entwaffnete sie.  „Ich bin gleich wieder zurück“, sagte er und zog seine Jacke über.

„Wo willst du hin?“

„Nachsehen was passiert ist.“ An der Schiebetür drehte er sich nochmal zu ihr. „Falls ich von wilden Wölfen oder Bären zerfleischt werden sollte und nicht wiederkomme, vermache ich dir mein gesamtes Schokoladenvermögen.“

Mit einem leisen Kichern trat er hinaus in den Gang und schloss die Tür hinter sich.

„Blödmann“, flüsterte Cassidy in ihren Rollkragenpullover und lächelte dabei.

 

Draußen war das Chaos genauso groß wie im Inneren des Zuges. Der Funkverkehr war gestört und sämtliche Mobiltelefone lahmgelegt. Demzufolge war es dem Lokführer nicht gelungen, Hilfe herbeizurufen.  Es brauchte eine ganze Weile, bis Noah den unebenen Weg, gespickt von Hindernissen, zum Führerhaus zurückgelegt hatte.

„Haben Sie schon jemanden erreichen können?“, fragte er den Zugführer, der unablässig versuchte, eine Funkverbindung herzustellen.

„Nein“, erklärte dieser abwesend.

„Wie weit ist es ungefähr bis zum nächsten Bahnhof?“

„Zwei, höchstens drei Meilen …“

Nachdem der junge Mann erfahren hatte was er wissen wollte, machte er sich auf den Weg zurück in sein Abteil.

„Da bist du ja endlich.“

Cassidy war erleichtert.

„Hast du dir Sorgen um mich gemacht?“

„Nein!“, sagte der Lockenkopf aus einem Impuls heraus. „Doch, hab ich“, gab sie aber dann zerknirscht zu.

Noah lächelte.

„Kannst du gehen?“

„Ich denke schon.“

„Dann pack dich ein, so warm es geht. Wir laufen zum Bahnhof.“

„Wieso?“

„Der Zug ist blockiert und es besteht kein Funkkontakt.“

„Wie weit ist es bis Denali?“

„Nicht weit.“

Widerwillig stand sie auf und zog ihren Daunenmantel an. Mit Schal, Mütze und Handschuhen vermummt entlockte sie Noah ein verhaltenes Grinsen. Er fühlte sich an eine abgespeckte Variante des Micheline-Männchens erinnert. Als Cassidy ihre Reisetasche aus dem Netz hieven wollte, legte er Einspruch ein.

„Das dicke Ding willst du nicht ernsthaft durch den Schnee schleppen, oder?“

„Ich nicht, aber du könntest das tun.“

„Ich bin kein Packesel.“

„Wir tauschen einfach.“ Cassidy schenkte ihm das charmanteste Lächeln, das sie auf Lager hatte. „Ich nehm deinen Rucksack und du meine Reisetasche.“

„Super Tausch!“, stöhnte er, nahm jedoch das bauchige Gepäckstück entgegen und rückte dafür seinen deutlich leichteren Eastpack heraus. „Beim Aufprall hast du wohl doch mehr als nur eine Platzwunde abgekriegt“, brummte er, während sie nacheinander das Abteil verließen.

 

Noah und Cassidy nahmen den Weg über die Schienen. Auf diese Weise liefen sie keine Gefahr sich zu verlaufen und mussten nicht in den Schneemassen umherkriechen, die sich entlang der Gleise erhoben. Dennoch zog sich die Strecke deutlich länger, als Noah erwartet hatte.

„Ist nicht weit“, grummelte es neben ihm.

Cassidys angestrengter Atem entlud sich in einer weißen Dampfwolke, die zu ihrer brodelnden Stimmung passte.

„Der Lokführer meinte, es wären zwei, höchstens drei Meilen.“

„Zwei bis drei Meilen?“, wiederholte der Lockenkopf entsetzt. „Das ist weit, verdammt weit sogar.“

„Sonst noch was zu meckern?“

„Ich muss mal.“

„Hier stehen genug Bäume.“

„Dann krieg ich ´ne Blasenentzündung.“

„Das wäre übel.“

„Mir ist kalt.“

„ Ach wirklich?“

„Ja!“

„Tun dir vielleicht auch die Füße weh?“

„Noch nicht, aber es wird sicher nicht mehr lange dauern. Es sei denn, sie sind vorher komplett eingefroren und beginnen abzusterben …“

„Wie ist es mit deinen Händen?“

„Ich spür sie kaum noch.“

„Das ist genauso übel wie eine potentielle Blasenentzündung, die du dir vielleicht in den Büschen holen könntest.“

„Und meine Nase ist taub.“

„Zieh den Schal drüber.“

„Das sieht bescheuert aus.“

„Es ist dunkel, niemand außer mir sieht es.“

Cassidy zerrte an ihrem Schal, bis er die Hälfte ihres Gesichtes bedeckt hatte.

„Meinst du so?“, drang es erstickt durch die Wolle.

„Ja“, grinste Noah.

„So krieg ich aber Fussel in den Mund, wenn ich rede.“

„Dann rede nicht.“

Der junge Mann schüttelte amüsiert den Kopf, während die Frau mit dem Namen eines berüchtigten Gesetzlosen ihren Schal wieder nach unten schob.

Es knackte im Gebüsch, Cassidy packte erschrocken seinen Arm.

„Hast du das gehört?“, keuchte sie.

„Nein“, erwiderte er so gelassen wie möglich.

Die junge Frau sah sich nach allen Seiten um.

„Da war nichts. Können wir jetzt weitergehen?“

Ein neuerliches Knacken gefolgt von lautem Rascheln ließ sie zur Salzsäule erstarren.

„Was war das?“

„Wahrscheinlich ist Schnee von den Bäumen gefallen.“

„Ich hab Angst.“

„Brauchst du nicht. Können wir jetzt bitte weitergehen?“

Cassidy setzte sich zögernd in Bewegung.

„Ich gehe dir auf die Nerven.“

„Ein bisschen.“

„Wenn du willst, kann ich versuchen den Mund zu halten und kein Wort mehr sagen, bis wir am Bahnhof sind.“

„Das schaffst du nicht“, lachte er.

„Nein, vermutlich nicht“, kicherte sie.

„Wie wäre es zur Ablenkung mit Musik?“

„Hast du welche dabei?“

„Ja, in meinem Rucksack.“

Sie hielten an und Noah zog einen i-Pod aus dem Eastpack, der Cassidys Rücken bedeckte.

„Hier.“

Er gab seiner verfrorenen Begleiterin einen der beiden Ohrenstöpsel, den anderen steckte er sich selbst ins Ohr und drückte auf Play.

„Bing Crosby?“

Die Miene der jungen Frau erhellte sich mit den sanften Klängen von White Christmas.

„Ich stehe total auf alte Weihnachtslieder“, erklärte Noah.

„Ich auch!“

Ohne Umschweife nahm er ihre Hand und schob sie, verschränkt mit seiner, in seine Jackentasche.

„Besser so?“

Cassidy rückte näher an ihn heran und beider Herzen schlugen einen Hauch schneller.

„Ja“, flüsterte sie. „Viel besser …“

 

Der Bahnhof von Denali beendete den unfreiwilligen Spaziergang der besonderen Art. Cassidy ließ ihre Handtasche fallen und sackte erschöpft auf eine vom Frost überzogene Bank, obwohl sie seit geraumer Zeit überaus dringend zur Toilette musste. Noah zog derweil sein Handy aus der Hosentasche und prüfte, ob er nahe der Zivilisation endlich wieder Empfang hatte. Wie erwartet funktionierte das Mobiltelefon. Eilig wählte er die Nummer des Notrufs, gab alle notwendigen Informationen durch, soweit er darüber Kenntnis besaß, und versprach an Ort und Stelle zu warten, bis die Ersthelfer nebst Polizei und Bergungstrupp eingetroffen waren.

„Ist es von hier aus noch weit nach Healy?“, fragte er seine Begleiterin, nachdem er aufgelegt hatte.

„Nein, es sind nur ein paar Meilen bis zum Haus meiner Eltern.“

„Soll ich dir ein Taxi rufen?“

„Ja“, sagte die junge Frau und sah ihm dabei zu, wie er die entsprechende Nummer wählte.

„Der Wagen kommt gleich“, erklärte Noah, als er aufgelegt hatte. „Aber du solltest vorher dein Gesicht waschen.“

„So schlimm?“

„Ziemlich schlimm.“

Cassidy stand mühsam auf und schlich im Schneckentempo in das verhältnismäßig kleine Bahnhofshäuschen, das aufgrund der späten Ankunft des Zuges noch geöffnet hatte. Es war mucksmäuschenstill, nur das Ticken der großen Uhr und das inbrünstige Schnarchen des alten Mannes im Auskunfts- und Ticketschalter war zu hören. Er schlief tief und fest, augenscheinlich hatte er nicht mitbekommen, dass der letzte Zug bereits lange überfällig war.

Auf leise quietschenden Sohlen schlich Cassidy über die stumpfen Fliesen, an dem spärlich geschmückten Tannenbaum vorbei, zu den Waschräumen. Ihre Finger waren immer noch steif und so drückte sie die Klinke mit dem Ellbogen runter. Bevor sie sich ihrem lädierten Gesicht widmete, steuerte sie eine der beiden Toiletten an. Ihre Handschuhe zwischen die Zähne geklemmt, versuchte sie ihren Mantel und ihre Jeans zu öffnen. Nachdem dies endlich gelungen war, gab die junge Frau mit einem erleichterten Aufatmen dem schmerzhaften Druck ihrer Blase nach, den sie während der gesamten Wegstrecke und darüber hinaus versucht hatte zu ignorieren.

Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit ihre Hände wusch und in den Spiegel über dem Waschbecken sah, verstand sie, wieso Noah ihr nahegelegt hatte, ihr Gesicht zu reinigen. Die rechte Seite war bis zum Hals runter mit getrocknetem Blut überzogen. Ganz so, als wäre sie gerade einem Horrorfilm entsprungen.

Während Cassidy die Blutspuren beseitigte, trafen draußen die Rettungskräfte ein. Noah zeigte ihnen auf einer Karte, wo in etwa der Baum auf die Schienen gestürzt war. Kurz darauf setzte sich eine kleinere Lok mit nur einem Waggon, in dem die Helfer und einiges an Material verstaut worden war, von einem Seitengleis aus in Bewegung.

 

Unmittelbar nach der Ankunft des Taxis kam die junge Frau aus dem Bahnhofshäuschen.

„Dein Wagen ist da.“

Cassidy nickte. Sie nahm den Lederbeutel von der Bank, streifte den Rucksack von ihrem Rücken und gab ihn an Noah zurück. Er warf ihn lässig über seine Schulter und ergriff ein letztes Mal die schwere Reisetasche seiner hübschen Zugbekanntschaft. Stillschweigend begleitete er sie zu dem gelben Wagen, der mit laufendem Motor auf seinen Fahrgast wartete. Noah öffnete die hintere Tür und schob das Gepäckstück hinein. Aus dem Inneren des Wagens erklang leise White Christmas von Bing Crosby.

Der junge Mann lächelte und trat näher an den Lockenkopf heran.

„Es war sehr nett, dich kennengelernt zu haben.“

„Ja, das war es …“

„Ich nehme den Nachmittagszug am 26.“

„Den nehme ich auch.“

„Vielleicht sitzen wir wieder im selben Abteil. Das wäre schön ...“, zwinkerte er.

„Ja, das wäre es ...“

„Frohe Weihnachten, Cassidy.“

Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern. Er zögerte kurz, doch dann berührten seine Lippen nur ganz leicht ihre Wange, bevor er ging.

„Frohe Weihnachten, Noah ...“

Auch Cassidys Stimme glich bloß einem zarten Wispern, als sie ihm nachsah, bis er am Ende der Straße um eine Ecke bog und aus ihrem Sichtfeld verschwand.

 

Ihre Eltern schliefen bereits, als Cassidy die Tür des gutbürgerlichen Hauses in der Lincoln Street aufschloss. Sie hatten demnach keine Ahnung, was für eine Odyssee ihre Tochter erlebt hatte. Auf dem Küchentisch stand, wie jedes Jahr, ein Teller mit selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen und in der Mikrowelle wartete eine Tasse Kakao auf die junge Frau. Während sie das erste Gebäckstück in den Mund steckte, schaltete sie die Mikrowelle ein und wartete auf das leise „Pling“.

Noch vollständig bekleidet, das Gepäck unterm Arm, balancierte sie die heiße Tasse und den Plätzchenteller die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Dort angekommen stellte sie den süßen Mitternachtssnack auf dem Nachttisch ab, streifte sich die Boots von den durchgefrorenen Füßen und schälte sich nach und nach, wie eine Zwiebel, aus ihrer winterlichen Verpackung. Zum Duschen war es viel zu spät und sie war auch zu müde, um noch irgendwas anderes zu tun, als ihren Pyjama anzuziehen und ihren heißgeliebten Kakao zu trinken. Sie lächelte verträumt, während sie das schokoladige Getränk in kleinen Schlucken zu sich nahm. Als sie wenig später ihren Schlafanzug aus der Reisetasche zog, flatterte ein Zettel vor ihre Füße. Mit gerunzelter Stirn hob sie das zerknitterte Stück Papier auf und las, was darauf geschrieben stand.

 

Liebe Cassidy,

 

meine Telefonnummer ist in deinem Handy unter N wie Noah oder auch Nervensäge abgespeichert. Nur für den Fall, dass du vorhast, morgen zu kneifen, versichere ich dir jetzt schon, dass dein arrangiertes Blind Date kein übriggebliebener Renntierpullover und Fliegen tragender Philosophiefutzi  ist. Weder das eine noch das andere Kleidungsstück befindet sich in meinem Schrank und wie du weißt, bin ich Tierarzt.

 

Schlaf gut!

Dr. Noah Gabriel Rutherfooooord

 


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Urheberrechtsverletzung ist kein Kavaliersdelikt!