Careless Whisper


 

 Montag

 

Rafe saß vor seinem überfüllten Schreibtisch in einem der ehemaligen Penthäuser des Plaza. Sein Schädel dröhnte. Angespannt massierte er seine Schläfen, während er versuchte, sich auf die Renovierungspläne für die Zimmer in der fünften Etage zu konzentrieren. Ein verhaltenes Klopfen lenkte ihn kurz von den Papierbergen ab.

„Ja, bitte.“

Seine Sekretärin Helen trat ein.

„Ihre Aspirin, Mr. Alexander.“

Mit einem freundlichen Lächeln im dezent geschminkten Gesicht reichte sie ihm ein Glas Wasser und eine Schachtel Tabletten.

„Vielen Dank, Helen.“

Die junge Frau mit der schwarzen Lockenmähne nickte ihm freundlich zu und verließ den klimatisierten Raum wieder. Rafe öffnete die Packung, drückte direkt zwei Pillen aus einem der Streifen und würgte sie mit einem kräftigen Schluck Wasser hinunter. Stöhnend sank er in dem wuchtigen Ledersessel zurück, schloss einen Moment die Augen und zerrte an seinem Krawattenknoten. Er atmete mehrmals tief durch, bevor er sich in aufrechter Position wieder seiner Arbeit widmete. Als das Telefon klingelte, hob er ab.

„Mr. Alexander? Miss Moore auf Leitung eins.“

Es knackte kurz. Helen hatte die Verbindung hergestellt und aufgelegt.

„Rafe?“

„Ja?“

Die vertraute Stimme zauberte einen strahlenden Glanz in seine graublauen Augen.

„Ich weiß, dass du keine Zeit hast, aber ich musste unbedingt deine Stimme hören.“

„Für dich habe ich immer Zeit, Vivian.“

„Genau das wollte ich hören.“

Rafe schmunzelte.

„Was machst du gerade?“

„Du meinst, außer meinen Traummann zu stalken?“

Er lachte.

„Statistiken, Statistiken und dann sind vor fünf Minuten noch neue Statistiken eingetroffen.“

„Wir führen ein ziemlich bescheidenes Dasein“, sagte Rafe.

„Beruflich betrachtet ja, privat würde ich nicht tauschen wollen.“

Vivians Worte entlockten ihm ein weiteres Lächeln.

„Ich auch nicht, um nichts in der Welt, Golden.“

„Woran denkst du gerade?“, fragte die sanfte Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Das kann ich um diese Uhrzeit nicht aussprechen.“

Vivian kicherte. Sie verstand, worauf er anspielte.

„Aber ich werde es dir heute Abend zeigen.“

Vor drei Wochen hatten sie sich zum letzten Mal geliebt und der bloße Gedanke daran beschleunigte seinen Puls.

„Das hoffe ich“, flüsterte sie.

„Wann landet deine Maschine?“

„Um 20:30 Uhr am JFK.“

Es klopfte leise und Helen trat ein.

„Mr. Alexander, die Innenarchitekten warten im fünften Stock auf Sie.“

Rafe nickte seiner Sekretärin zu.

„Ich muss auflegen, die Arbeit ruft.“

Vivian atmete laut hörbar aus, es klang wie ein enttäuschtes Seufzen.

„Ja, ich auch. In zehn Minuten habe ich ein Meeting. Wir sehen uns heute Abend, Liebling.“

„Ich hole dich ab.“

„Sei pünktlich.“

„Auf die Minute.“

Rafe stand auf und rückte mit einer Hand seine Krawatte notdürftig zurecht.

„Golden?“

„Ja?“

„Ich liebe dich.“

„Dito.“

Als Rafe das Gespräch beendet hatte, verließ er eilig sein Büro und ging zu den Aufzügen.

 

Die warmen Strahlen der Abendsonne schienen mild durch die getönten Scheiben seines Mercedes´, als Rafe frisch geduscht über den Freeway zum JFK fuhr. Der Verkehr war dicht, staute sich aber nicht und so schaffte er es pünktlich das Flughafengebäude zu betreten. Es blieb ihm sogar noch genügend Zeit in einen Blumenladen einzukehren und weiße Callas zu kaufen – Vivians Lieblingsblumen.

Mit einem entspannten Lächeln im Gesicht studierte er die Anzeigetafel, bis er den Flug aus Miami gefunden hatte, und machte sich auf den Weg zu dem entsprechenden Terminal, als plötzlich sein Mobiltelefon klingelte.

„Telefonieren im Flugzeug ist nicht gern gesehen“, schmunzelte er.

„Ich sitze nicht in der Maschine.“

„Ist was passiert?“

„Ja, es gibt Schwierigkeiten in Toronto.“

„Nicht schon wieder.“

Rafe blieb stehen.

„Leider doch.“

Vivian klang genauso enttäuscht wie er.

„Kommst du überhaupt jemals wieder nach Hause?“

„Wahrscheinlich übermorgen.“

„Wahrscheinlich“, wiederholte er abwesend.

Rafe betrachtete die Blumen in seiner Hand.

„Es tut mir leid, Liebling.“

„Ja, mir auch.“

„Wir telefonieren morgen“, sagte Vivian. „Ich muss los, Brian wartet auf mich.“

Rafe antwortete nicht, er nickt nur, obwohl sie es nicht sehen konnte.

„Liebling?“

„Ja?“

„Ich liebe dich.“

„Dito“, flüsterte Rafe und legte auf.

 

Die Blumen waren alles, was er vom Flughafen mit nach Hause genommen hatte. Vom Beifahrersitz aus sahen sie ihn fast schon mitleidig an, als er den Mercedes in der Tiefgarage parkte. Er nahm sie, schloss den Wagen ab und fuhr mit dem Aufzug in den sechsten Stock. Auf dem gepflegten Gang zu seiner Wohnung war es ruhig, die Nachbarn schienen nicht zuhause zu sein. Er schloss die Wohnungstür auf, warf die Blumen samt seinem Schlüssel auf den Garderobenschrank und durchquerte den langen Flur bis zu seinem Wohnzimmer. Rafe seufzte, als er sich eines der schweren Kristallgläser aus dem Schrank holte und es mit Whiskey füllte,  zweifingerbreit ohne Eis. Er spülte den feinen Stoff in einem Zug hinunter. Das milde Brennen betäubte seine Enttäuschung und er schenkte direkt nochmal nach. Diesmal bis zum obersten Rand des Glases.

Vom Regal aus lachte ihm ein Bild von Vivian entgegen. Das goldblonde, lange Haar war vom Wind zerzaust, einige winzige Sommersprossen waren auf ihrer Stupsnase zu erkennen. Ihre blauen Augen strahlten mit der Sonne im Hintergrund um die Wette und ein umwerfendes Lächeln gab das winzige Grübchen auf ihrer rechten Wange preis. Sie verkörperte alles, was er sich je von einer Frau erträumt hatte und genau das machte es so schwer, auf sie zu verzichten. Die Abstände, in denen sie sich sahen, wurden immer größer. Ihr Job vereinnahmte sie weit über die Grenzen einer normalen Arbeit hinaus. Es fraß sie auf – alle beide. Mit Brian, ihrem Vorgesetzten, verbrachte sie mittlerweile mehr Zeit, als mit ihm. Eifersucht nagte an Rafe und er fragte sich, wie so oft in den vergangenen Monaten, ob Brians Interesse an Vivian wirklich nur rein beruflicher Natur war.

Er kippte auch den Inhalt des zweiten Glases in einem Zug runter, dann verließ er fast schon fluchtartig seine Wohnung.

 

Die Bar Americain war gut besucht. Rafe musste eine ganze Weile warten, bis ein Hocker direkt an der Theke frei wurde. Die Luft war von Alkohol, Aftershave und Parfum geschwängert. Geraucht wurde draußen, dennoch wehte mit jedem eintretenden Gast ein leichter Rauchschwall hinein. Die saxophonlastige Musik beschwerte sein ohnehin schon angeschlagenes Gemüt.

„Was darf es für Sie sein?“, fragte der Barkeeper.

„Jack Daniels“, antwortete Rafe.

Von den verspiegelten Regalen hinter der Theke sah ihm ein enttäuschtes Gesicht, umrahmt von braunen, kurzgeschnittenen Haaren, entgegen. Trotz seiner sonnengebräunten Haut wirkte er an diesem Abend blass. Sein Körper schrie förmlich nach Schlaf, doch er brauchte Ablenkung von seinem Frust und diese konnte er in seinen eigenen vier Wänden nicht finden.

Der Barkeeper stellte den Whiskey auf den Tresen. Ein kurzes, freundliches Zwinkern und er widmete sich dem nächsten Gast. Rafe nahm das Glas in die Hand, drehte es sacht hin und her und beobachtete die rötlichgoldschimmernde Flüssigkeit darin. Er seufzte leise, trank den Jack Daniels und deutete dem jungen Mann an der Bar, er möge für Nachschub sorgen. Nur am Rande bekam Rafe mit, dass der Glatzkopf neben ihm bezahlte und ging. Abwesend starrte er auf die Eiswürfel in seinem zweiten Drink.

„Mr. Alexander?“

Er kannte die Stimme. Kurz darauf bewegte sich der freigewordene Barhocker neben ihm und der Duft eines angenehmen Parfums wehte ihm entgegen. Als er aufsah, erblickte er seine Sekretärin.

„Guten Abend, Helen“, sagte er rau und nippte an seinem Glas.

„Sind Sie allein hier?“

Rafe nickte.

„Wollte Miss Moore -.“ Helen sprach nicht weiter, als sie die finstere Miene ihres Vorgesetzten bemerkte. Stattdessen bestellte sie einen Long Island Ice Tea beim Barkeeper.

„Doch wollte sie“, murmelte Rafe, „aber sie hat es nicht geschafft.“

„Wieder nicht?“

Rafe lachte bitter.

„Ja, wieder nicht.“

Erst jetzt bemerkte er, wie hübsch sich Helen gemacht hatte. Ohne ihren strengen Businesslook sah sie ganz anders aus. Knielange Röcke war er von ihr gewohnt, aber Minis wie diesen hatte er bisher noch nicht an ihr gesehen und bei dem Anblick wunderte es ihn nicht, dass sie ihre schlanken, schier endlos langen Beine im Büro weitestgehend bedeckt hielt. Sie hätte damit sicherlich für Aufruhr in der männlichen Führungsetage gesorgt.

„Das ist schade“, sagte Helen leise.

„Ja, das ist es.“

„Sind Sie oft hier?“

„Früher war ich regelmäßig mit Vivian hier, aber in letzter Zeit nicht mehr.“

„Verstehe.“

Helen trank an ihrem Ice Tea.

„Und Sie?“

„Nein, ich bin zum ersten Mal hier. Eigentlich war ich mit einer Freundin verabredet, aber sie hat kurzfristig abgesagt und da ich schon mal vor der Tür stand, wollte ich wenigstens noch was Trinken, bevor ich wieder nach Hause gehe.“

„Kommt mir bekannt vor“, schmunzelte Rafe. Er bestellte einen weiteren Whiskey und einen Ice Tea für Helen.
„Das ist aber der letzte für mich“, lachte sie. „Mein Chef bringt mich um, wenn ich morgen Früh zu spät auf der Arbeit erscheine.“

Rafe genoss ihre Gesellschaft. Das unbeschwerte Lachen einer attraktiven Frau an seiner Seite hatte er lange nicht mehr gehört.

„Ich könnte ein gutes Wort für Sie einlegen.“

„Nein, können Sie nicht.“

Das Spiel war eröffnet.

„Wieso nicht?“

„Er ist ein Griesgram.“

Helen bemühte sich ernst zu bleiben, als sie Rafes erstaunten Gesichtsausdruck sah.

„So? Ist er das?“

Sie bestätigte ihre Worte mit einem Kopfnicken und presste ihre Lippen fest zusammen.

„Ist er alt und verbittert?“, hakte Rafe nach.

„Ja“, gluckste Helen. „Sehr alt und sehr verbittert.“

Er entspannte sich zusehends neben der humorvollen Frau mit dem verschmitzten Lächeln. Der kleine Flirt gefiel ihm und die Gedanken an Vivian rückten in den Hintergrund.

„Wie alt ist sehr alt?“

„Mindestens achtzig.“

Rafes Augen weiteten sich abermals und er erstickte sein Auflachen mit einem großen Schluck Whiskey.

„Darf der verbitterte, alte Mann Sie trotzdem zum Tanzen auffordern?“, fragte er ohne Umschweife und sah sie mit einem spitzbübischen Funkeln in den Augen an.

Helen erwiderte seinen Blick, rutschte langsam von ihrem Barhocker und streckte ihm ihren Arm entgegen.

„Falls Sie es nicht allein bis zur Tanzfläche schaffen sollten“, flüsterte sie mit einem Augenzwinkern. Ein freches Grinsen umspielte dabei ihre Mundwinkel.

 

 

Dienstag

 

„Guten Morgen, Mr. Alexander.“ Helen begrüßte ihren Chef, als ob es die lockere Zeit mit ihm in der Bar nicht gegeben hätte. „Ihr Kaffee steht auf Ihrem Schreibtisch.“

„Hatten wir das ´Sie´ nicht hinter uns gelassen?“

Rafe ging an ihr vorbei und setzte sich an seinen Arbeitsplatz.

„Ich dachte im Büro wäre es Ihnen lieber, wenn-.“

„Das Denken solltest du deinem alten, verbitterten Vorgesetzten überlassen.“

Helen wurde rot. Im Nachhinein war ihr die Sache ganz schön peinlich, zumal sie in Rafe einen ziemlich gutaussehenden Mann vor sich hatte. Er gefiel ihr. So war es von Anfang an gewesen, aber er war ihr Boss und er war vergeben. Wobei Letzteres, wenn das so weiter ging, nur noch eine Frage der Zeit sein konnte. Einen Mann wie ihn konnte man nicht lange halten, wenn man ihn ständig vernachlässigte. Es war kaum zu übersehen, wie einsam er sich fühlte.

„Wo ist deine Schlagfertigkeit geblieben?“, fragte Rafe, als er keine Antwort von ihr bekam.

„Wahrscheinlich in der Bar.“

„Dann sollten wir unbedingt nochmal dorthin gehen und sie abholen.“

Er nahm einen Schluck Kaffee und zwinkerte ihr zu. „Was steht heute alles an?“

„Um 9 Uhr die Konferenzschaltung mit Mr. Vanderbilt, um 9:30 Uhr haben Sie-.“ Rafe räusperte sich laut und sah Helen mit gerunzelter Stirn an. Es brauchte einen Moment, bis sie begriff, wieso er das getan hatte, dann lächelte sie und räusperte sich ebenfalls, bevor sie weiter sprach. „Du einen Termin mit Mrs. Collins wegen der Gardinenstoffe, um 10:15 Uhr werden die neuen Möbel geliefert, gegen 11:30 Uhr wirst du in der Galerie Artpoint erwartet.“ Helen machte eine kurze Pause, um Luft zu holen. „13 Uhr Lunch mit Mr. Butler im Oak Room, 16 Uhr Meeting mit den Wedding Plannern.“

„Klingt, als würde es spät werden“, sagte Rafe. „Die Hochzeiten am Wochenende hätte ich wegen der Renovierungsarbeiten beinahe völlig vergessen.“

„Dafür hast du ja mich.“

Helen lächelte ihm zu und verließ sein Büro.

 

Nach dem Lunch mit Mr. Butler versuchte Rafe Vivian anzurufen – vergeblich. Er hörte ihre Stimme nur als Ansage für ihre Mailbox.

„Du fehlst mir, Golden. Ruf mich an“, sprach er auf das Band, während er durch das Foyer des Hotels zu den Aufzügen lief.

Im fünften Stock tobte das Chaos. Möbelpacker waren unterwegs, Dekorateure schwirrten über den weitläufigen Flur, Lieferanten schleppten Kisten umher und mindestens fünf Zimmermädchen standen ratlos mittendrin. Rafe begutachtete der Reihe nach alle Räume, notierte sich den Stand der Dinge, erteilte Anweisungen, unterschrieb Lieferscheine und räumte leere Kartonagen aus dem Weg, bevor er sich im Bankettsaal mit den Wedding Plannern traf, um nochmal alles für die Hochzeiten am kommenden Wochenende zu besprechen. Als er gegen 19 Uhr endlich fertig war, prallte er im Foyer mit Helen zusammen. Sie hatte ihr Mobiltelefon zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, ihre Tasche unter den Arm gequetscht und in der Hand hielt sie einen Stapel Stoffmuster.

„Nein, Mrs. Norfalk, keine freifliegenden weißen Tauben im Saal. Mr. Alexander hat Ihnen doch schon erklärt, dass wir Vogelkot auf unserer Einrichtung nicht besonders schätzen.“

Rafe schmunzelte. Mrs. Norfalk versuchte es also über seine Sekretärin. Er nahm die Stoffmuster aus Helens Hand. Sie dankte es ihm mit einem Lächeln.

„Ich denke nicht, dass sie in der Kürze ein Hotel in der Stadt finden, welches Ihnen erlaubt,  die Vögel innerhalb der Räumlichkeiten fliegen zu lassen.“ Helen verdrehte die Augen und zog eine Grimasse.

„Weiße Schmetterlinge?“

Die junge Frau sah ihren Boss fragend an.

„Das ist okay“, flüsterte er, „aber nur, wenn sie dafür sorgt, dass sie danach alle wieder eingefangen werden.“

„Schmetterlinge sind kein Problem, Mrs. Norfalk. Vorausgesetzt, sie werden danach alle wieder eingefangen.“ Helen trat unruhig auf der Stelle umher.

„Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte. Auf Wiedersehen.“

„Alles okay?“, fragte Rafe seine zappelnde Sekretärin.

„Ja, gleich wieder.“

Helen drückte ihm ihre Tasche und das Smartphone in die Hand, dann rannte sie in Windeseile zu den Toiletten.

„Ich warte in der Oaks Bar“, rief er ihr nach.

Sie nickte im Laufen und verschwand.

 

„Das war Rettung in letzter Minute“, seufzte Helen, als sie sich neben Rafe an einen kleinen Tisch setzte. „Danke, dass du-.“

„Kein Problem.“ Er gab ihr das Handy und ihre Tasche. „Hat Miss Moore im Büro angerufen?“

Helen runzelte die Stirn. Sie hätte ihm gerne etwas anderes gesagt, aber seine Freundin hatte sich nicht gemeldet.

„Nein.“

Rafe atmete tief durch und strich mit den Händen durch sein Haar.

„Macht nichts.“ Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht er wirklich war. „Möchtest du etwas Trinken? Einen Long Island Ice Tea vielleicht?“

„Das weißt du noch?“

„Sicher!“

Helen lächelte ihn an.

„Heute kein Alkohol, aber ein Soda wäre nicht schlecht.“

Rafe stand auf und ging rüber zum Tresen. Wenig später kehrte er mit einem Bitterlemon und einem Soda an den Tisch zurück.

„Danke.“ Sie nahm das Soda aus seiner Hand und trank mehrere große Schlucke, bevor sie das Glas abstellte.

„Darf ich?“ Rafe sah sie fragend an. Helen beugte sich nach vorn, rückte seinen Krawattenknoten zurecht und klopfte ihm Staub von der linken Schulter. „So ist es besser.“

Sie roch unglaublich gut, Vivian hatte ein ähnliches Parfum. Verstohlen schielte er auf sein Smartphone – keine Nachricht, kein entgangener Anruf.

„Darf ich?“, fragte Rafe im Gegenzug. Er wartete nicht auf Helens Antwort, stattdessen beugte er sich zu ihr, schloss den obersten Knopf ihres Blazers und rückte den Anhänger ihrer Kette gerade. „So ist es besser.“

Sie lachten beide gleichzeitig und zum ersten Mal an diesem Tag fiel die Anspannung von ihnen ab.

 

Rafe brachte Helen nach Hause. Die Gesellschaft der aufgeschlossenen Frau mit den strahlenden, dunkelbraunen Augen tat ihm gut. Sie war herrlich unkompliziert, hatte einen trockenen Humor und ihre Fröhlichkeit war nahezu ansteckend. Es tat ihm gut in ihrer Nähe zu sein. Auch Helen genoss sichtlich seine Anwesenheit. Sie hatte schon immer gerne mit ihm zusammengearbeitet und nach ihrem zufälligen Treffen in der Bar Americain war ihr klar geworden, wieso. Allerdings war ihr auch bewusst, dass es ein Spiel mit dem Feuer war. Sie musste aufpassen, dass sie nicht mehr in die aufkeimende Freundschaft hinein interpretierte, als gut für sie war. Er war vergeben und er litt unter der räumlichen Trennung von seiner Freundin, da konnten die Grenzen schnell verwischen.

„So, da wären wir“, sagte Helen, als sie die Madison Avenue erreicht hatten, und blieb vor einem großen Appartementkomplex stehen. Sie überlegte kurz, ob sie ihn auf einen Drink mit nach oben nehmen sollte, verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder. Er hätte falsche Schlüsse daraus ziehen können und auch, wenn er extrem nett und anziehend war, war er immer noch ihr Chef. „Danke für den Geleitschutz.“

„Gern geschehen.“ Rafe hoffte insgeheim darauf, dass sie ihn noch auf einen Drink einladen würde. Er wartete einige Sekunden, doch sie machte keinerlei Anstalten ihn darum zu bitten, sie nach oben zu begleiten. „Wir sehen uns morgen.“ Er lächelte. „Im Büro.“

Helen nickte.

„Ja, das tun wir.“

 

Rafe lag schon im Bett, als das Smartphone auf seinem Nachttisch vibrierte – Vivian.

„Liebling?“

„Ja?“

„Es tut mir leid, ich konnte mich nicht früher bei dir melden. Hier ist die Hölle los. Ich habe mich gerade aus dem Konferenzraum geschlichen, um dich anzurufen.“

„Du arbeitest noch?“

Rafe sah auf seinen Wecker, 23:28 Uhr.

„Ja und es ist kein Ende in Sicht.“

„Wie lange bist du noch in Toronto?“

„Bis Donnerstag.“

„Solltest du nicht morgen-.“

„Doch, eigentlich schon, aber es hat sich alles verzögert.“

„Verstehe.“

Im Hintergrund wurde es unruhig. Brian rief nach Vivian. Rafe schluckte hart. Die Sehnsucht nach ihr machte ihn fertig.

„Ich muss auflegen.“

„Ja, ich weiß.“

Es gelang ihm nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. Noch zwei weitere Tage ohne sie.

„Wir telefonieren.“

„Ja“, flüsterte er, „das tun wir.“

„Ich liebe dich, Rafe.“

„Mach´s gut, Golden.“

Er legte auf und warf das Telefon auf ihre Seite des Bettes.

 

Mittwoch

 

Rafes Laune hatte den Nullpunkt bereits unterschritten, als er sein Büro betrat. Mit einem lauten Stöhnen sank er auf den Sessel hinter seinem Schreibtisch und rieb über seine gerunzelte Stirn.

„Guten Morgen.“ Die fröhliche Stimme Helens vermochte es nur mäßig seine Stimmung zu verbessern. „Alles okay?“

So ernst hatte sie ihn noch nicht erlebt, seit sie vor einem halben Jahr im Plaza angefangen hatte. Sie stellte seinen Kaffee – stark, schwarz, zwei Löffel Zucker – auf den Schreibtisch.

„Nein, nichts ist okay“, seufzte er. „Sie kommt erst morgen zurück, falls sie überhaupt jemals wieder nach Hause kommt.“

„Wollte sie nicht heute-.“ Sein finsterer Blick ließ sie verstummen. „Entschuldige, das geht mich nichts an.“

Helen war im Begriff sein Büro zu verlassen.

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Du kannst nichts dafür.“

Sie blieb stehen.

„Kann ich irgendetwas für dich tun?“

Rafe lächelte sie müde an.

„Außer einem Berg Arbeit fällt mir da gerade nichts ein.“

„Damit kann ich dienen“, zwinkerte sie.

 

Die Renovierungsarbeiten im fünften Stock neigten sich dem Ende zu. Langsam ebbte das Chaos ab. Es war verhältnismäßig ruhig geworden. Bilder wurden aufgehangen, Gardinen angebracht, Pflanzen und Blumen in liebevoller Perfektion arrangiert, die Badezimmer mit Handtüchern und Bademänteln bestückt und die Kingsize Betten mit blütenweißer Wäsche bezogen. Nach dreiwöchigem Terror erstrahlte die Etage in neuem Glanz. Auch wenn der sechste Stock als nächstes auf dem Programm stand, erfreute Rafe sich daran, dass die Odyssee zumindest in diesem Teil des Hotels ein erfolgreiches Ende genommen hatte. Als spät am Abend auch das letzte Zimmermädchen verschwunden war, trafen sich Helen und Rafe zur letzten Inspektion.

„Hätte mir gestern jemand gesagt, dass heute schon alles fertig ist, hätte ich ihn für verrückt erklärt“, sagte Helen, als sie das erste Zimmer betraten.

„Das Team hat wirklich tolle Arbeit geleistet“, pflichtete Rafe ihr bei, während er das Badezimmer unter die Lupe nahm. „Wenn wir die Zimmer zusammen durchgehen, werden wir heute allerdings nicht mehr nach Hause kommen.“

„Was schlägst du vor?“

„Wir teilen uns auf und treffen uns in der Mitte.“

„Gut.“

Helen gähnte.

„Ich kann das auch allein machen.“

„Nein, schon okay. Ich ignoriere die Müdigkeit einfach.“

„Funktioniert das?“

„Meistens schon“, lächelte sie und unterdrückte ein weiteres Gähnen.

„Falls ich dich gleich schlafend in einem der Betten finde, bedeutet das die Kündigung für Sie, Miss Watson.“

„Sehr alt und sehr griesgrämig“, murmelte Helen in ihr Klemmbrett.

„Ich hab das gehört.“

„Das solltest du auch“, kicherte sie. „Anstatt einer Kündigung hätte ich mir nach dieser Woche wohl eher den Zimmerservice verdient.“

Kopfschüttelnd, mit einem Grinsen im Gesicht, verließ Rafe die Suite und schlenderte an den Aufzügen vorbei bis zum Ende des langen Flures, um seinen Kontrollgang im letzten Zimmer der Etage zu starten.

Es gab nur wenig Grund zur Beanstandung. Hier und da war ein Knick zu viel in der Bettwäsche oder die Handtücher lagen nicht akkurat genug aufeinander. Ansonsten blieb die Mängelliste weitestgehend leer. Es waren Nichtigkeiten, die dem Gast nicht aufgefallen wären, aber die Leitung des Plaza legte größten Wert auf Perfektion in allen Bereichen und so blieb Rafe nichts anderes übrig, als auf hohem Niveau zu bemängeln.

 

Nach 23 Uhr hatte Rafe das vorletzte Zimmer seiner Hälfte betreten, als das Telefon in der Innentasche seines Jacketts vibrierte – Vivian.

„Liebling? Bist du noch wach?“

„Ja.“

„Was machst du gerade?“

„Ich kontrolliere die Zimmer.“

„Du fehlst mir.“

Vivian klang erschöpft. Sie war ein Workaholic genau wie Rafe. Doch wusste er in der Regel sein Privatleben nicht damit zu belasten.

„Ich halte das nicht mehr aus, Golden. Es muss sich was ändern.“

„Ja“, flüsterte sie matt in den Hörer, „ich weiß und ich verspreche dir, sobald ich zurück bin, wird alles anders.“

„Das sagst du jedes Mal.“

Stille. Darauf konnte sie nichts erwidern. Diese Diskussion hatten sie schon oft geführt und es hatte viele Versprechungen mit doppelt so vielen Enttäuschungen gegeben.

„Rafe? Versprich mir, dass du nicht sauer wirst.“

Sein Brustkorb weitete sich, er atmete tief ein und wieder aus.

„Was?“, fragte er harsch.

„Vor Freitag werde ich nicht wieder zuhause sein.“

Er wollte etwas sagen, blieb aber stumm.

„Bist du noch dran?“, fragte Vivian.

„Ja!“

Seine Antwort war kurz und knapp.

„Liebling, ich-.“

„Lass das, Golden. Ich kann das so nicht mehr und ich will es auch nicht mehr.“

„Es ist das letzte Mal.“

Auch das hatte er schon viel zu oft gehört. Es war immer dasselbe, aber es änderte sich nichts. Sobald Brian nach ihr rief, flog sie mit ihm quer durch alle Staaten. Es vergingen mitunter Monate, in denen sie sich nicht sahen. „Ich muss jetzt Schluss machen, Liebling. Brian-.“

„Bis dann, Vivian“, unterbrach er sie.

Rafe legte auf und schaltete das Smartphone aus. Er wollte nichts mehr von ihr hören und schon gar nicht, wenn Brian dabei eine Rolle spielte. Seine Frustration war grenzenlos.

 

„Hier steckst du.“ Helen betrat den Courtyard Room. „Pause machen ist nicht drin.“

Rafe stand am Fenster. Er drehte sich nicht um, obwohl er sie gehört hatte. Helen ging auf ihn zu und legte vorsichtig die Hand auf seine Schulter.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie leise.

Rafes Körper spannte sich an. Laut hörbar entwich die Atemluft aus seiner Lunge.

„Doch, alles bestens“, seufzte er. „Bist du schon fertig?“

„Ja.“

Ihre Hand sank von seiner Schulter.

„Gut, dann lass uns für heute Schluss machen.“

Er drehte sich um. Sein Blick sprach Bände und Helen war versucht, etwas zu sagen, ihn aufzumuntern, schwieg aber, weil sie nicht die richtigen Worte fand. Rafe ließ ihr den Vortritt. An der Zimmertür blieb er stehen, sah sich nochmal um und löschte das Licht. Helen war ebenfalls stehengeblieben und schaute ihn an. Die schwache Beleuchtung des Flures erhellte seine ebenmäßigen Gesichtszüge.

„Wenn ich irgendwas für dich-.“

Rafe erstickte den Rest ihrer Worte mit einem sanften Kuss.

„Du hast schon genug für mich getan“, flüsterte er.

Helens Herz raste. Sie keuchte leise.

Rafe strich durch sein Haar. Er war überfordert. Mit allem.

„Gott, Helen-.“ Er stockte kurz. „Es, es tut mir leid, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich weiß auch nicht, was-.“

Helen küsste ihn. Genauso kurz und zart, wie er es zuvor getan hatte.

„Du hast mich nicht in Verlegenheit gebracht“, wisperte sie. „Ich hab mir gewünscht, dass es passiert.“

Ihre Offenheit verschlug ihm die Sprache. Auch er hatte schon darüber nachgedacht, doch hätte er nie gewagt, diesen Wunsch auszusprechen.

Langsam kam er ihr näher. So nah, dass er wieder den verführerischen Duft ihres Parfums wahrnehmen konnte. Sie roch wie Vivian. Er blendete das lächelnde Gesicht mit den goldblonden Haaren aus, das kurzzeitig in seinem Gedächtnis aufflackerte und versuchte ihn davor zu bewahren, die Grenzen zu überschreiten. Rafe atmete tief ein. Mit einem Blick in Helens dunkle Augen verabschiedete sich sein Verstand. Sie wollte ihn und er brauchte sie. Genau jetzt, in diesem Moment. Er verriegelte die Tür hinter Helen, hob sie hoch und trug sie zu dem Kingsize Bett mit der blütenweißen Wäsche.

 

Donnerstag

 

Helen stand unter der Dusche, als Rafe sein Mobiltelefon einschaltete. Vivian hatte die ganze Nacht über versucht ihn anzurufen. Das schlechte Gewissen fraß an ihm, obwohl er nicht bereute, was geschehen war. Helen hatte ihm gegeben, wonach er sich so sehr gesehnt hatte, was er seit Wochen vermisst hatte. Dennoch war ihm klar, dass es einiges an Klärungsbedarf gab. Er musste Vivian sagen, was passiert war.

Rafe stand auf, suchte seine Short zwischen den zerwühlten Laken und ging zum Badezimmer. An der Tür blieb er stehen und beobachtete Helen dabei, wie sie ihren Körper unter der Dusche einseifte.

„Spannen am Arbeitsplatz ist strengstens verboten“, kicherte sie, als sie ihren sichtlich erregten Boss in der Tür stehen sah.

Rafe lachte.

„Miss Watson, so ziemlich alles was wir getan haben, ist strengstens verboten.“

„Steht Rückeneinseifen auch als Tabu in meinem Arbeitsvertrag?“

Sie drehte sich um und sah ihn unschuldig über ihre Schulter hinweg an.

Rafe grinste. Er wollte gerade ihrer Bitte nachkommen, als sein Telefon klingelte.

„Lass es klingeln.“

Sie wackelte verführerisch mit ihrem Po.

„Es könnte was Wichtiges sein.“

Rafe verließ das Badezimmer und nahm das Handy vom Bett – Vivian. Sein Herz rutschte augenblicklich in seinen Magen.

„Ich mache es wieder gut“, war das Erste, was er von ihr hörte. „Du hast allen Grund sauer zu sein, aber es war wirklich das letzte Mal. Ich habe schon mit Brian geredet.“

Er blieb stumm. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Liebling? Bist du noch dran?“

„Ja“, krächzte er.

„Wo steckst du?“

„Im Hotel.“

„Da bin ich auch.“

Sein Puls raste, er war starr vor Schreck.

„Bist du in deinem Büro?“

„Nein.“

„Wo dann?“

„Oben.“

„Und wo genau ist oben?“

„Fünfter Stock“, murmelte er.

„Das trifft sich gut, ich stehe gerade im Foyer vor den Aufzügen. Ich bin gleich bei dir.“

Vivian legte auf. Kopflos stand Rafe vor dem Bett und suchte seine Kleidung zusammen. In Windeseile zog er sich an, strich sich die Haare glatt und rauschte am Badezimmer vorbei zur Tür. Als er fluchtartig das Zimmer verließ, sah er Vivian schon vor den Aufzügen stehen. Ihr Lächeln warf ihn komplett aus der Bahn. Beschwingten Schrittes eilte sie auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.

„Du hast mir so sehr gefehlt“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich habe es nicht länger ausgehalten und den Nachtflug aus Toronto genommen. Brian muss den Rest ohne mich klären.“ Vivian löste sich von ihm. „Was ist los? Freust du dich nicht, mich zu sehen?“

Rafe rieb angespannt über sein unrasiertes Kinn.

„Doch, schon-.“

„Aber?“

Erst jetzt bemerkte Vivian, dass sein Hemd falsch zugeknöpft war. Es steckte unordentlich im Bund seiner zerknitterten Anzughose.

„Hast du hier übernachtet?“

Er nickte. Das Öffnen einer Zimmertür jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken.

„Rafe?“

Vivians Lächeln erstarb,  als sie den Kopf einer dunkelhaarigen Frau durch den Türspalt sah. Raum und Zeit bildeten eine zähflüssige Masse. Es gab kein Vor, kein Zurück, keine Möglichkeit sich der Situation zu entziehen, nur das Entsetzen in ihren weit aufgerissenen Augen. Wortlos drehte sie sich um und ging. An den Aufzügen blieb sie stehen.

„Ich kann dir alles erklären, Golden.“

Sie gab keinen Ton von sich. Mit gestrafften Schultern schaute sie stur geradeaus.

„Ich wollte das nicht. Nicht so.“

Ein verhaltenes "Pling" war zu hören. Die Tür des Aufzugs öffnete sich und Vivian betrat stocksteif die Kabine. Rafe versuchte sie festzuhalten, aber sie ließ ihm keine Chance, sich zu erklären. Mit versteinerter Miene entzog sie sich seinem Griff und wartete darauf, dass sich die Tür vor seiner Nase schloss. Es gab kein klärendes Gespräch, nichts. Noch am selben Tag packte Vivian ihre Koffer und zog aus dem gemeinsamen Appartement aus. Zurück blieb dieselbe traurige Leere, die sie immer hinterlassen hatte, wenn sie nicht da war.

 


Alle Rechte vorbehalten durch (c) Anja Tatlisu

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